Soldaten der Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF)
Reuters/Rodi Said
Vor türkischem Einmarsch in Nordsyrien

Kurden sehen in US-Rückzug „Dolchstoß“

Die Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF) werten es als „Dolchstoß“, dass die USA die Türkei bei deren angedrohtem Militäreinsatz im Nordosten Syriens gewähren lassen wollen. Die USA hatten zuvor bekanntgegeben, ihre Soldaten zurückzuziehen, wie es aus dem Weißen Haus hieß. Die Erklärung der USA sei eine Überraschung, sagte ein Sprecher der von der Kurdenmiliz YPG angeführten SDF am Montag.

Die Entscheidung des Weißen Hauses ist eine weitere Kehrtwende in der Syrien- und Türkei-Politik der USA. US-Präsident Donald Trump verteidigte am Montag den Rückzug aus Nordsyrien und stellte den Einsatz dabei grundsätzlich infrage. Es sei an der Zeit, aus diesen „lächerlichen endlosen Kriegen“ herauszukommen und „unsere Soldaten nach Hause zu bringen“, schrieb Trump am Montag in einer Serie von Tweets.

Es sei nun an der „Türkei, Europa, Syrien, dem Iran, dem Irak, Russland und den Kurden“, die Situation zu lösen. „Wir sind 7.000 Meilen entfernt und werden (die Terrormiliz) IS erneut niederschlagen, wenn sie irgendwo in unsere Nähe kommt.“ Zuvor hatte das Weiße Haus in einer Mitteilung deutlich gemacht, sich einer geplanten türkischen Offensive in Nordsyrien nicht in den Weg zu stellen. Streitkräfte der USA würden künftig nicht mehr „in der unmittelbaren Region sein“.

Kurden warnen vor Wiedererstarken des IS

Es habe Zusicherungen der USA gegeben, dass Washington keinen türkischen Angriff auf die Region zulassen werde, so der Sprecher weiter. Die SDF selbst seien einem von den USA garantierten Sicherheitsmechanismus für die Grenzregion zwischen Syrien und der Türkei vollständig verpflichtet gewesen. „Wir können sagen, dass sie (die US-Entscheidung, Anm.) für die SDF ein Dolchstoß in den Rücken ist.“

US-Soldaten vor einem türkischen Armeefahrzeug in Syrien
APA/AFP/Delil Souleiman
Die US-Armee werde die türkische Offensive nicht unterstützen, hieß es vonseiten der USA

Das SDF-Bündnis warnte, eine türkische Offensive würde zu einem Wiederaufleben der islamistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) führen. Ein türkischer Militäreinsatz würde den Kampf gegen den IS um Jahre zurückwerfen und könne überlebende IS-Anführer dazu motivieren, aus ihren Verstecken zurückzukehren. Das Bündnis warnte zudem vor den Auswirkungen einer Militäroffensive auf kurdische Gefängnisse und informelle Siedlungen für ehemalige IS-Kämpfer und deren Familien. Nach Angaben von Beobachtern und Aktivisten laufen die Vorbereitungen der SDF auf den möglichen türkischen Einmarsch auf Hochtouren.

Türkei fürchtet erstarkte Kurden

Das Rebellenbündnis SDF war im erbitterten Kampf gegen den IS im Bürgerkriegsland Syrien für die USA ein wichtiger Verbündeter. Nun erklärte ein US-Vertreter, die USA würden im Falle des offenbar bevorstehenden türkischen Angriffs in Nordsyrien die dortigen SDF-Kräfte nicht verteidigen. Darüber habe man den SDF-Kommandanten informiert. Man werde aber einen solchen türkischen Angriff auch nicht unterstützten, erklärte das US-Präsidialamt.

Die Führung in Ankara stuft die YPG als Terrororganisation ein und verlangt, dass sie aus der geplanten Sicherheitszone auf syrischem Gebiet abzieht. Seit 2016 ist die Türkei bereits zweimal gegen die YPG-Miliz in Nordsyrien vorgegangen. In dem Gebiet leben überwiegend Kurden. Die Türkei fürchtet ein Erstarken der Kurden jenseits ihrer Südgrenze und damit auch der nach Autonomie strebenden Kurden auf ihrem eigenen Territorium. Sie will in der Sicherheitszone bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln.

Gegend wird zum „Kriegsgebiet“

In seiner Mitteilung kritisierte das Weiße Haus indes, dass „Frankreich, Deutschland und andere europäische Nationen“ ihre in Nordsyrien inhaftierten Staatsangehörigen, die sich dem IS angeschlossen hatten, nicht zurückholten. Die Türkei werde nun für alle IS-Kämpfer in der Region verantwortlich sein, die in den vergangenen zwei Jahren festgenommen wurden, so das Weiße Haus.

Laut Angaben des türkischen Außenministers Mevlut Cavusoglu sei die Türkei entschlossen, die Region „von Terroristen“ zu befreien. Die SDF kündigten am Montag daraufhin an, keine Sekunde zögern zu wollen, um sich gegen die Türkei zu verteidigen. SDF-Sprecher Mustafa Bali schrieb auf Twitter, dass US-Truppen mit dem Abzug aus der Grenzregion begonnen hätten. Sie ließen damit zu, dass die Gegend zum Kriegsgebiet wird.

USA – Türkei: Treffen im November

In dem Telefonat am Sonntag sprachen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und US-Präsident Trump über die Schaffung einer von der Türkei seit Langem geforderten „Sicherheitszone“ in Nordsyrien. Im August hatten die USA eine entsprechende Vereinbarung mit der Türkei getroffen. Erdogan zeigte sich in dem Gespräch mit Trump seinem Büro zufolge enttäuscht „über das Scheitern der US-Militär- und -Sicherheitsbürokratie“ bei der Umsetzung des Vorhabens. Er vereinbarte laut den Angaben mit dem US-Präsidenten ein Treffen in Washington nächsten Monat, bei dem über die „Sicherheitszone“ diskutiert werde.

Karte zeigt die Kontrolle durch Konfliktparteien in Nordostsyrien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: BBC

Einzelheiten zu Form oder Kontrolle des Gebiets blieben bisher karg und widersprüchlich. Türkischen Vorstellungen nach soll es rund 30 Kilometer tief sein und sich vom Euphrat gen Osten die gesamte türkisch-syrische Grenze entlangziehen. Kurdischen Angaben zufolge sah die Einigung den Rückzug von Milizen aus einem fünf bis 14 Kilometer tiefen Gebiet vor. „Man habe sich an die Absprachen (zum Sicherheitsmechanismus, Anm.) gehalten“, hieß es von kurdischer Seite am Samstag. Eine von Erdogan gesetzte Frist für die Fertigstellung der Zone verstrich zu dessen Unmut Ende September.

Türkei bringt Truppen in Stellung

Bereits am Sonntagvormittag wurde berichtet, dass die Türkei Waffen und Truppen an die syrische Grenze rücken lässt. Die Nachrichtenagentur DHA berichtete, dass Soldaten im südosttürkischen Grenzort Akcakale Panzer und Artilleriegeschütze in Stellung bringen. Die Waffen seien auf den gegenüberliegenden syrischen Ort Tel Abjad gerichtet worden.

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete in der Nacht auf Sonntag von neun Transportern mit Militärfahrzeugen sowie einem Bus mit Soldaten, die Akcakale erreicht hätten. Sie seien aus der Provinzhauptstadt Sanliurfa gekommen. Dort hatte die Türkei im März ein Kommandozentrum für die geplante Offensive eingeweiht.

UNO bereitet sich auf das Schlimmste vor

Die US-Entscheidung sorgte unterdessen auch bei Fachleuten für Unbehagen. Befürchtet wird unter anderem, dass die YPG-Miliz wegen Gefechten mit türkischen Truppen ihre Anti-Terror-Aufgaben vernachlässigen müsse, beispielsweise die Sicherung von inhaftierten IS-Kämpfern. Auch wird laut „New York Times“ befürchtet, dass sich die Kurden im Kampf gegen die Türkei mit der syrischen Regierung unter Machthaber Baschar al-Assad verbünden könnten.

Die EU warnte die Türkei vor den Folgen der Militäroffensive. Bewaffnete Auseinandersetzungen im Nordosten des Landes würden „nicht nur das Leiden von Zivilisten verstärken und zu massiven Vertreibungen führen“, sondern bedrohten auch laufende politische Bemühungen für eine Beilegung des Syrien-Konflikts, sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini am Montag in Brüssel.

Die UNO bereitet sich auf „das Schlimmste“ vor. „Wir wissen nicht, was passieren wird“, sagte der Leiter des UNO-Hilfseinsatzes in Syrien, Panos Moumtzis, am Montag in Genf. Es gebe „viele unbeantwortete Fragen“ zu den Folgen einer türkischen Offensive.