Polizeiaufgebot in Wiedersdorf
APA/AFP/Ronny Hartmann
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Großeinsatz nach Todesschüssen von Halle

In der Stadt Halle an der Saale im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt sind am Mittwoch zwei Menschen erschossen worden. Eine Person wurde verhaftet – ungeachtet einer großangelegten Großfahndung blieb bis zum Abend offen, ob es weitere Täter gibt. Erhärtet haben sich unterdessen Hinweise auf einen antisemitischen Hintergrund: Ziel der Attacke war offensichtlich die zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur voll besetzte Synagoge der 238.000-Einwohner-Stadt.

Nach Angaben der Polizei wurden ein Mann in einem Imbiss und eine Frau auf offener Straße in unmittelbare Nähe der Synagoge erschossen. Dazu kommen mehrere Verletzte – darunter laut Medienberichten offenbar einer der Täter. In das Uniklinikum Halle wurden laut einem Sprecher zwei Personen mit Schussverletzungen eingeliefert – darunter laut einem Medienbericht offenbar auch ein Tatverdächtigter.

Die Polizei wurde laut einer Sprecherin kurz nach 12.00 Uhr alarmiert. Kurz darauf sei es zu einer ersten Festnahme gekommen, eine Entwarnung folgte erst Stunden später: Die Gefährdungslage für die Bevölkerung der Stadt werde „mittlerweile nicht mehr als akut eingestuft“, wie die Polizei via Twitter mitteilte: „Sie können wieder auf die Straße, die Warnungen sind aufgehoben.“

Laut Medienberichten sei mittlerweile zudem fraglich, ob es tatsächlich mehrere Täter gibt. Die Polizei gehe mittlerweile vielmehr von einem Täter aus, teilte am Abend etwa der TV-Sender MDR Sachsen-Anhalt und die „Bild“-Zeitung mit. Eine offizielle Bestätigung gebe es dafür allerdings noch nicht. Laut „Spiegel“ sei ein 27-jähriger Deutscher für den Angriff in Halle verantwortlich. Dieser wurde am Nachmittag auf der B91 nördlich der Ortschaft Zeitz festgenommen, wie die „Bild“-Zeitung dazu berichtete.

Oberbürgermeister spricht von „Amoklage“

Vielmehr war zuvor auch von offizieller Seite von mehreren Tätern die Rede. Im Rahmen der eingeleiteten Großfahndung wurden auch die Kontrollen auf Bahnhöfen und Flughäfen in Mitteldeutschland verstärkt. Vom Oberbürgermeister der Stadt, Bernd Wiegand, wurde nach Angaben aus dem Rathaus „im Zusammenhang mit einer Amoklage“ der Stab für außergewöhnliche Ereignisse einberufen. Alle Rettungskräfte der Feuerwehr seien in Alarmbereitschaft versetzt worden.

Polizeiahrzeuge und -helikopter in Wiedersdorf
APA/AFP/Ronny Hartmann
Auf der Suche nach den Tätern waren auch Polizeihubschrauber im Einsatz

Täter in Landsberg verschanzt?

Zuvor berichtete der TV-Sender MDR Sachsen-Anhalt, die Polizei habe auch für den an Halle angrenzenden Landkreis Landsberg eine Gefahrenmeldung ausgegeben. Die Anrainer seien gebeten worden, ihre Wohnungen und Häuser nicht zu verlassen. Die „Bild“-Zeitung berichtete von einem Schusswechsel in der zu Landsberg gehörenden Ortschaft Wiedersdorf.

Polizeiaufgebot in Landsberg/Wiedersdorf, nahe Halle
Reuters/Marvin Gaul
Einsatzkräfte im nahe Halle gelegenen Wiedersdorf

Medienberichte zeichneten eine unübersichtliche Lage. Die „Bild“-Zeitung berichtete beispielsweise auch von laufenden Einsätzen in der rund 15 Kilometer von Halle entfernten Ortschaft Landsberg und auf einer Schnellstraßen- bzw. Autobahnbaustelle, und die „Leipziger Volkszeitung“ („LVZ“) von einer auf den Raum Leipzig ausgeweiteten Polizeiaktion. Für Verwirrung sorgte unterdessen die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ („FAZ“), derzufolge es auch eine Spur ins Burgenland gebe – gemeint war allerdings nicht das österreischische Bundesland, sondern der Burgenlandkreis, ein Landkreis in Sachsen-Anhalt.

Erste Bilder von mutmaßlichen Täter

Nach den tödlichen Schüssen schaltete die Polizei mit Unterstützung des Bundeskriminalamts ein Hinweisportal. Dort könnten Fotos oder Videos vom Tatgeschehen hochgeladen werden, teilte die Polizei via Twitter mit. Auch andere Hinweise könnten unter dem Ereignis „Mehrere Schusswechsel in Sachsen-Anhalt“ dort gemeldet werden. Gleichzeitig appellierten die Ermittler, Fotos und Videos nicht in den Sozialen Netzwerken im Internet zu verbreiten.

Deutsche Medien veröffentlichten zuvor bereits Bild- und Videoaufnahmen. Die „Mitteldeutsche Zeitung“ zeigte ein Foto, auf dem ein dunkel gekleideter Mann mit Helm und Stiefeln zu sehen ist, der ein Gewehr im Anschlag hat. Der MDR Sachsen-Anhalt zeigte ein Video, auf dem ein mit Kampfausrüstung und Helm bekleideter Mann aus einem Auto aussteigt und mehrfach eine Waffe abfeuert.

„Synagoge wurde direkt angegriffen“

„Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschießen“, wird der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, von deutschen Medien zitiert.

Das zum Tatzeitpunkt mit 70 bis 80 Personen voll besetzte jüdische Gotteshaus, wurde Privorozki zufolge „direkt angegriffen“. „Aber unsere Türen haben gehalten.“ Außerdem hätten der oder die Täter versucht, das Tor des benachbarten jüdischen Friedhofs aufzuschießen. In der Synagoge habe die Gemeinde den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur gefeiert. Die Menschen seien schockiert gewesen. Vor der Tür habe ein Todesopfer des Angreifers gelegen. „Wir haben die Türen von innen verbarrikadiert und auf die Polizei gewartet.“

Einer dpa-Meldung zufolge seien vor der Synagoge auch Sprengsätze abgelegt worden. Bereits zuvor war von einem Augenzeugen von einer in den jüdischen Friedhof geworfenen Handgranate die Rede gewesen.

Bundesanwaltschaft leitet Ermittlungen

Die genauen Hintergründe sind laut Polizei noch unklar. Laut einer Sprecherin der deutschen Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gebe es aber ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund. Bereits zuvor wurde die Übernahme der Ermittlungen durch die Karlsruher Behörde bekanntgegeben. Dieser Schritt sei wegen der „besonderen Bedeutung des Falls“ erfolgt, sagte ein Sprecher laut AFP. Es gehe hier um „die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betreffende Gewaltdelikte“.

Die Fraktion der Grünen beantragte zudem eine schnellstmögliche Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Deutschen Bundestags. Das sagte der Fraktionsvize Konstantin von Notz der „Welt“. Das Parlamentsgremium kontrolliert die Arbeit des Bundes im Bereich seiner Nachrichtendienste, also des Bundesnachrichtendiensts (BND), des Militärischen Abschirmdiensts (MAD) und des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV).

„Schreckliche Nachrichten“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff sprach in einer ersten Reaktion von einer „verabscheuenswürdigen Tat“. Dadurch seien nicht nur Menschen zu Tode gekommen, die Tat sei „auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land“. Er sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus.

Auch die deutsche Regierung zeigte sich bestürzt. Regierungssprecher Steffen Seibert sprach von „schrecklichen Nachrichten“. Dass es zwei Tote gebe, sei „entsetzlich“. Er hoffe sehr, „dass die Polizei den Täter oder die Täter möglichst schnell fassen kann und kein weiterer Mensch in Gefahr kommt“. Es sei nun ganz wichtig, dass die Bevölkerung den Anweisungen der Polizei Folge leiste.

Seibert betonte, dass er noch keine Informationen zu den möglichen Hintergründe habe. Ein Sprecher des deutschen Innenministeriums äußerte sich ähnlich: Zur Motivlage seien „derzeit keine seriösen Angaben“ möglich.

Schweigeminute im EU-Parlament

Es seien „entsetzliche Nachrichten über zwei Tote und einen Angriff auf eine Synagoge in Halle – heute an #JomKippur“, teilte Bundespräsident Alexander Van der Bellen über Twitter mit. Auch Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein zeigte sich „tief bestürzt“. „Die Sicherheit und Bewahrung jüdischen Lebens muss in Österreich, in Europa und überall auf der Welt gewährleistet sein“, wie Bierlein in einer Stellungnahme weiter mitteilte: Das sei „unverzichtbar wie auch unverhandelbar“.

„Wie sprechen den Familien der Opfer unser tiefstes Mitgefühl aus“, sagte der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sossoli. Die Abgeordneten legten zudem eine Schweigeminute ein. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sprach von einer „weiteren tragischen Demonstration von Antisemitismus“.

Am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur „kommen Menschen in Gotteshäusern zusammen, um über das vergangene Jahr nachzudenken“, hieß es von der US-Botschaft in Berlin: „Der heutige Anschlag war ein Angriff gegen uns alle, und die Täter müssen dafür zur Verantwortung gezogen werden.“

Verschärfte Schutzmaßnahmen vor Synagogen

Nach Angaben der Polizeidirektion Magdeburg werden derzeit alle jüdischen Einrichtungen in Sachsen-Anhalt von Polizeikräften aufgesucht. Bereits zuvor wurde von verschärften Sicherheitsvorkehrungen vor den Synagogen im benachbarten Leipzig und in Dresden berichtet. Verschärfte Sicherheitsvorkehrungen gibt es auch vor jüdischen Einrichtungen in Wien.