Soldaten beobachten eine Explosion
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Nordsyrien

Hunderte IS-Familien flüchteten aus Lager

Mehrere hundert Angehörige von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sind nach kurdischen Angaben aus einem Lager in Nordsyrien geflohen. Insgesamt soll es sich um fast 800 Menschen handeln. 785 Frauen und Kinder seien nach Luftangriffen der türkischen Armee aus der Einrichtung in Ain Issa geflüchtet, teilten die Verwaltung der halbautonomen Kurdenregion mit.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien verließen die Wachen das Lager, in dessen Nähe sich die türkische Armee Gefechte mit kurdischen Kämpfern lieferte. Ein Anführer des kurdisch-geführten Rebellenbündnisses Syrische Demokratische Kräfte (SDF), gegen das sich die türkische Offensive richtet, sagte, es gebe nicht genug Wachpersonal, nachdem Kämpfer an die Front beordert worden seien.

Weitere Sicherheitskräfte seien nach dem Beschuss durch das türkische Militär weggelaufen. In Ain Issa, das in der Nähe der ebenfalls umkämpften Stadt Tal Abjad liegt, gebe es nur noch 60 bis 70 Sicherheitskräfte, im Vergleich zu normalerweise rund 700. Insgesamt leben in dem Lager 12.000 Menschen, darunter auch Familien von IS-Kämpfern. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte dazu nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu: „Das ist eine Desinformation.“ Sie diene lediglich dazu, den Westen „aufzuwiegeln“.

Rauchschwaden nach einer Explosion
APA/AFP/Bakr Alkasem
Die Kämpfe in Nordsyrien hinterlassen eine Spur der Verwüstung

Türkische Armee nimmt Grenzstadt ein

Die türkische Armee und ihre Verbündeten setzten ihre Angriffe auf die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien unterdessen am Sonntag fort. Die Streitkräfte eroberten nach Angaben der Beobachtungsstelle die Grenzstadt Tal Abjad. Es sei die größte Stadt, die sie seit Beginn der Offensive am Mittwoch eingenommen hätten, heißt es. Auch die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete die Einnahme des Stadtzentrums.

Mit der Einnahme von Tal Abjad richtet sich der Fokus der Offensive nun auf die Grenzstadt Ras al-Ain weiter östlich. Die beiden Städte, die unmittelbar südlich der Grenze zur Türkei liegen, sind die Hauptziele der seit Mittwoch laufenden Militäroffensive. Das türkische Verteidigungsministerium teilte derweil mit, auch die wichtige Überlandstraße M-4 sei unter Kontrolle der türkischen Armee. Sie liegt rund 30 Kilometer südlich der Grenze.

Dutzende zivile Opfer

Der TV-Sender CNN Türk berichtete dagegen, türkische Truppen würden in Ras al-Ain nach Verstecken kurdischer Kämpfer suchen. Ras al-Ain liegt direkt an der türkischen Grenze entlang einer wichtigen Versorgungsroute zwischen dem umkämpften Tal Abjad im Westen und Kamischli im Osten.

Seit dem Beginn der Offensive am Mittwoch wurden nach Angaben der Beobachtungsstelle inzwischen mehr als 85 kurdische Kämpfer sowie rund 40 Zivilisten getötet. Die Angaben der in London ansässigen Organisation sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen. Auf türkischer Seite wurden nach Angaben Ankaras 18 Zivilisten getötet. Bei den Kämpfen in Nordsyrien seien außerdem vier Soldaten getötet worden.

Frau wird von Männern evakuiert
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Menschen flüchten vor den herannahenden Kämpfen

Nach UNO-Angaben flohen bereits mehr als 130.000 Menschen vor den Kämpfen. Das UNO-Büro zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) warnte am Sonntag davor, dass bis zu 400.000 Menschen durch die Kämpfe vertrieben werden könnten.

SDF: Politikerin und Frauenrechtlerin getötet

Die SDF teilte unterdessen mit, dass eine bekannte kurdische Politikerin und Frauenrechtlerin getötet wurde. Havrin Chalaf, Generalsekretärin der Partei Zukunft Syriens (FSP), sei auf einer Landstraße in einen Hinterhalt geraten, teilten die SDF mit.

Die SDF machte die Türkei und deren Verbündete für Chalafs Tod verantwortlich. „Dies zeigt, dass der türkische Einmarsch nicht zwischen einem Soldaten, einem Zivilisten oder einem Politiker unterscheidet“, hieß es in einer Mitteilung der SDF. Von türkischer Seite gab es keine offizielle Bestätigung. Die regierungsnahe Zeitung „Yeni Safak“ meldete am Samstagabend unter Berufung auf Quellen aus der Gegend, Chalaf sei bei einer Operation „außer Gefecht gesetzt worden“.

Ex-US-Verteidigungsminister warnt vor IS

Der ehemalige US-Verteidigungsminister und General James Mattis warnte angesichts der Syrien-Offensive und des Abzugs von US-Soldaten vor einem Wiedererstarken des IS. Die USA müssten den Druck auf den IS aufrechterhalten, damit er nicht wieder auflebe, sagte Mattis dem US-Sender NBC. Der IS sei nicht besiegt – man müsse sehen, ob die Kurden trotz des türkischen Militäreinsatzes in der Lage sein werden, den Kampf gegen die Terrormiliz aufrechtzuerhalten. „Es wird Auswirkungen darauf haben. Die Frage ist, wie stark.“

Syrische Kämpfer nahe Tal Abyad
Reuters/Reuters TV
Die Türkei geht seit Mittwoch militärisch gegen Kurdenmilizen im Norden Syriens vor

Internationaler Druck auf Türkei wächst

Der weltweite Druck auf Ankara wächst unterdessen. Die USA drohten dem NATO-Partner mit Strafmaßnahmen, Deutschland und Frankreich stoppten ihre Rüstungsexporte in die Türkei. Die arabische Liga forderte den „sofortigen Abzug“ aus Syrien. „Vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive in Nordostsyrien wird die Bundesregierung keine neuen Genehmigungen für alle Rüstungsgüter, die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten, erteilen“, so Deutschlands Außenminister Heiko Maas gegenüber der „Bild am Sonntag“.

Auch Frankreich kündigte am Samstagabend an, alle Waffenexporte in die Türkei zu stoppen. Zuvor hatten bereits mehrere europäische Staaten, darunter die Niederlande und Norwegen, angekündigt, ihre Waffenexporte in die Türkei auszusetzen. Österreich liefert seit 2016 kein Kriegsmaterial an die Türkei. Kritik kam auch von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel: Sie forderte Erdogan in einem Telefonat zu einer „umgehenden Beendigung der Militäroperation“ auf.

Die Arabische Liga verurteilte ebenfalls das Vorgehen Ankaras. Man fordere den „sofortigen Abzug“. Die Angriffe seien eine „Invasion in das Land eines arabischen Staates und ein Angriff auf seine Souveränität“, sagte Generalsekretär Ahmed Abul Gheit. Der irakische Außenminister Mohamed Ali Alhakim sagte bei einem Krisentreffen, die Militäraktion werde die humanitäre Krise und das Leiden der syrischen Bevölkerung verschärfen. Zusammen mit dem libanesischen Außenminister Gebran Bassil forderte er, Syrien wieder als Mitglied in die Arabische Liga aufzunehmen. Syriens Mitgliedschaft wurde 2011, wenige Monate nach Ausbruch der Aufstände im Land, suspendiert.

Putin fordert Abzug ausländischer Truppen

Russlands Präsident Wladimir Putin sprach sich erneut für einen Abzug ausländischer Truppen aus Syrien aus. „Jeder, der sich unrechtmäßig in einem fremden Land befindet – in diesem Fall in Syrien –, sollte das Gebiet verlassen. Das gilt für alle Länder“, sagte der Kreml-Chef am Samstag dem in Abu Dhabi ansässigen Nachrichtensender Sky News Arabia zufolge.

Putin schloss dabei auch einen Abzug der russischen Armee aus dem Bürgerkriegsland nicht aus. Sollte eine neue, legitime Regierung in Damaskus das wünschen und nicht mehr die russische Hilfe benötigen, sei Moskau dazu bereit. Russland unterstützt den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.

Feuer auf US-Soldaten verschärft Spannungen

Das Verhältnis zwischen Washington und Ankara ist unterdessen weiter angespannt. Laut dem Pentagon gerieten auch US-Soldaten am Freitag unter türkischen Beschuss. Amerikanische Einheiten seien im syrischen Grenzgebiet zur Türkei unter Artilleriebeschuss geraten, teilte das US-Verteidigungsministerium mit. Zwar sei der Vorfall nahe dem Grenzort Kobane glimpflich ausgegangen. Gleichwohl schickte das Pentagon eine neuerliche Warnung an die Adresse Ankaras. Die Türkei habe jegliche Handlungen zu vermeiden, „die eine sofortige Verteidigungsreaktion nach sich ziehen könnten“, warnte das Pentagon.

Druck auf Ankara wächst

Die ORF-Korrespondenten Christophe Kohl und Jörg Winter berichten über schärfer werdende Drohungen der USA gegenüber Ankara.

Das türkische Verteidigungsministerium wies den Vorwurf zurück, dass auf Truppen der Amerikaner oder des Militärbündnisses gegen den IS geschossen worden sei. Vielmehr seien türkische Grenzposten von Hügeln aus unter Beschuss genommen worden, die etwa einen Kilometer von einem US-Beobachtungsposten entfernt lägen.

„Akt der Selbstverteidigung“

„Als Akt der Selbstverteidigung“ sei das Gegenfeuer eröffnet worden auf die Stellungen der „Terroristen“ – womit die türkische Regierung in der Regel kurdische Milizen meint. Dabei seien aber „alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen“ und keine US-Kräfte beschossen worden. Nach Rückmeldungen seitens der USA sei das Feuer schließlich „vorsichtshalber“ eingestellt worden.

Bereits zuvor hatte die Türkei angekündigt, die Militäroffensive gegen die Kurdenmilizen in Nordsyrien trotz Sanktionsdrohungen der USA unbeirrt fortzusetzen. Die Türkei erhalte derzeit „von rechts und links Drohungen“, sagte der türkische Präsident Freitagabend bei einer Ansprache in Istanbul. „Aber wir werden nicht stoppen. Wir werden keinen Schritt mehr zurückgehen.“

Ankara will nach eigenen Angaben entlang der Landesgrenze auf syrischem Gebiet eine 30 Kilometer tiefe „Sicherheitszone“ errichten. Dort sollen dann bis zu zwei Millionen in die Türkei geflohene Syrerinnen und Syrer angesiedelt werden. Die Türkei verlangt den Abzug der Kurdenmilizen aus dem Gebiet, da sie fürchtet, dass ansonsten die Bildung eines kurdischen Staates vorangetrieben werden könnte.

Trump will weitere Soldaten abziehen

Inmitten der Militäroffensive der Türkei ordnete US-Präsident Donald Trump den Rückzug weiterer US-Soldaten aus Nordsyrien an. Es bestehe die Gefahr, dass die USA zwischen zwei sich gegenüberstehenden Armeen gerieten, die in Nordsyrien vorrückten, sagte US-Verteidigungsminister Mark T. Esper am Sonntag dem US-Sender CBS. Das sei eine „sehr unhaltbare“ Situation.

Esper habe deshalb mit Trump gesprochen, der angeordnet habe, dass mit einem Rückzug von Kräften aus Nordsyrien begonnen werde. Die US-Regierung wolle sicherstellen, dass keine US-Soldaten verletzt oder getötet würden, sagte Esper. Im Nordosten Syriens befanden sich zuletzt rund 1.000 US-Streitkräfte.