Recep Tayyip Erdogan
AP/Presidential Press Service
Syrien

Erdogan verspricht, IS-Gefahr zu bannen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist internationalen Sorgen entgegengetreten, dass die türkische Offensive in Nordsyrien gefangenen Kämpfern der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Flucht erlauben werde. „Wir werden sicherstellen, dass kein Kämpfer des IS den Nordosten Syriens verlassen kann“, versicherte Erdogan in einem Kommentar, der am Dienstag im „Wall Street Journal“ veröffentlicht wurde.

International besteht die Befürchtung, dass die türkische Offensive gegen die kurdische YPG-Miliz den Kampf gegen die IS-Miliz schwächt sowie den Tausenden IS-Kämpfern und ihren Angehörigen in kurdischer Haft die Möglichkeit zur Flucht gibt und der IS dadurch wieder erstarken kann.

„Wir sind bereit, mit den Herkunftsländern und den internationalen Organisationen zu kooperieren für die Rehabilitation der Frauen und Kinder der ausländischen terroristischen Kämpfer“, schrieb der türkische Präsident. Die Sorgen vor dem IS schienen sich zu bestätigen, als die kurdische Selbstverwaltung am Sonntag die Flucht von Hunderten Angehörigen von IS-Kämpfern aus einem Lager bei Ain Issa meldete.

Syrische Truppen
AP/SANA
Syrische Soldaten bereiten sich auf einen Einsatz vor

Fachleute sehen Gefahr durch IS-Kämpfer für Europa

Österreichische Fachleute warnen davor, dass nach der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien ehemalige IS-Kämpfer Europa wieder gefährlich werden könnten. Diese Meinung äußerten Militärexperte Brigadier Walter Feichtinger, Nahost-Experte Thomas Schmidinger sowie die Publizistin und Syrien-Kennerin Petra Ramsauer.

„In den vergangenen Monaten gab es großen Druck der USA auf Europa, IS-Kämpfer aus ihren Ländern zurückzunehmen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Aber Europa hat sich taub gestellt, und das fällt uns jetzt auf den Kopf“, sagte Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement, im „Kurier“ (Dienstag-Ausgabe).

Dschihadisten als „Druckmittel“

Ramsauer sieht die Gefahr als „sehr groß“, dass die Dschihadisten „als Faustpfand gegen Europa“ ausgenutzt werden könnten. „Erdogan kann sich ja deshalb so frei bewegen, weil er Europa unter Druck hat mit der Drohung, er würde dann die Flüchtlinge schicken, wenn wir zu stark gegen ihn diplomatisch vorgehen.“ Jetzt sehe es so aus, als würden die inhaftierten Terroristen „in die Hände des syrischen Machthabers Baschar al-Assad kommen, der uns mit dieser Frage unter Druck setzen wird können“.

Ob Assad das tut, sei dahingestellt, „aber ich denke, wir haben im Sommer eine ganz wichtige Chance verpasst, diese Terroristen zurückzuholen“, sagte Ramsauer am Dienstag im Ö1-Morgenjournal. Jetzt werde es notwendig sein, sich möglichst rasch mit den syrischen und türkischen Behörden zu verständigen, „um hier das Schlimmste zu verhindern“.

Auch Schmidinger sieht die Gefahr, dass IS-Kämpfer nach Europa zurückkehren, im Steigen. „Europa hätte über ein halbes Jahr Zeit gehabt, seine Staatsbürger geordnet zurückzunehmen. Die meisten EU-Staaten haben das nicht getan und gehofft, dass die Kämpfer für immer in Syrien oder im Irak entsorgt werden. Nun werden Teile davon freikommen und unkontrolliert nach Europa zurückkehren“, warnte er im Gespräch mit „News“ (Onlineausgabe).

Mehr als 7.000 IS-Kämpfer sind in Nordsyrien inhaftiert, sagte Schmidinger: „Dazu kommen aber noch einige Zehntausende Frauen mit Kindern, von denen durchaus auch sehr viele hochgradig ideologisiert sind und auch einige bis heute gefährlich sind. Einige der Frauen, insbesondere jene der IS-Moralpolizei Hisba, waren ebenfalls in schwere Verbrechen verwickelt, aber selbstverständlich nicht alle.“

„Hardcore-Dschihadistinnen“ gründeten Miliz

Ramsauer berichtete, dass es in zwei nordsyrischen Gefängnissen, wo sehr gefährliche männliche Terroristen inhaftiert sind, bereits Ausbruchsversuche gegeben habe. „Hier könnte es mehr geben.“ In Ain Issa seien bereits Unterstützer des IS entkommen. „Besonders brisant“ sei die Situation im Gefangenenlager al-Hol, wo 12.000 internationale Dschihadisten und Dschihadistinnen untergebracht seien – auch eine Österreicherin mit ihren Kindern.

„Vergangene Nacht hat es mehrere Morde gegeben“, erzählte Ramsauer. Einige tunesische und russische Hardcore-Dschihadistinnen hätten eine Miliz gegründet. Da gebe es „große Besorgnis, wenn diese Frauen unkontrolliert in die Freiheit kommen“.

Türkei und Trump geben Kurden die Schuld

US-Präsident Donald Trump und die Türkei bezichtigten die syrischen Kurden, IS-Anhänger absichtlich freizulassen. Die Türkei veröffentlichte am Montag Fotos und Videos, die belegen sollen, dass IS-Kämpfer aus einem Gefängnis in der syrischen Grenzstadt Tal Abjad freigelassen wurden. Trump warf den Kurden vor, damit die USA in den Konflikt hineinziehen zu wollen.

Seit Beginn der türkischen Offensive besteht die Befürchtung, dass die Tausenden inhaftierten IS-Anhänger die Chance zur Flucht nutzen. „Die Kurden könnten dabei sein, einige freizulassen, um uns zum Eingreifen zu zwingen“, schrieb Trump nun im Kurzmitteilungsdienst Twitter. Die IS-Anhänger könnten aber „leicht von der Türkei oder den europäischen Staaten, aus denen sie stammen, eingefangen werden, doch müssen sie schnell handeln“.

Kurden: Bewacher mussten an die Front

Die Verwaltung der kurdischen Autonomieregion in Nordsyrien hatte am Sonntag gemeldet, dass in der Folge der türkischen Offensive gegen die kurdische YPG-Miliz fast 800 Frauen und Kinder von IS-Kämpfern aus einem Lager bei Ain Issa entwichen seien. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in Großbritannien verließen die Wachen das Lager, da sich in dessen Nähe die türkische Armee Gefechte mit kurdischen Kämpfern lieferte. Ein Anführer des kurdisch-geführten Rebellenbündnisses Syrische Demokratische Kräfte (SDF) sagte am Sonntag, es gebe nicht genug Wachpersonal, nachdem Kämpfer an die Front beordert worden seien.

Rauchwolke über Ras al-Ayn
AP/Lefteris Pitarakis
Die Kämpfe von der Türkei aus betrachtet

Die Türkei wies die Angaben als falsch zurück. Präsident Erdogan sprach von einer „Desinformationskampagne“, die den Westen „provozieren“ solle. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar sagte am Montag, es gebe nur ein Gefängnis mit IS-Anhängern im Kampfgebiet. Als die türkischen Truppen dorthin gelangt seien, hätten sie gesehen, dass es von den kurdischen Kämpfern geleert worden sei. Sie hätten „Fotos und Videos“, sagte Akar. Kurz darauf veröffentlichte die Regierung entsprechende Aufnahmen aus einem Gefängnis in der Stadt Tal Abjad, die die Armee am Sonntag erobert hatte.

Regierungsvertreter: Kurden wollen Chaos verbreiten

„Die türkischen Streitkräfte haben heute ein Gefängnis in Tal Abjad in der Erwartung gestürmt, die dort inhaftierten IS-Terroristen in Haft zu nehmen“, erklärte ein türkischer Regierungsvertreter. „Bevor sie dorthin kamen, ließen die PKK/YPG-Terroristen die IS-Kämpfer frei, um in der Region Chaos zu verbreiten.“ Das zeige den Irrsinn, einer Terrorgruppe die Aufsicht über eine andere anzuvertrauen, erklärte der Regierungsvertreter.

Am Vortag hatten Angehörige von französischen Insassen des Lagers in Ain Issa gesagt, diese seien zum Verlassen des Camps gezwungen worden. „Die kurdischen Wachen haben den ausländischen Frauen die Türen geöffnet und sie aufgefordert, das Camp zu verlassen“, sagte eine Frau der Nachrichtenagentur AFP, die am Telefon mit ihrer 24-jährigen Tochter gesprochen hatte, die seit eineinhalb Jahren in Ain Issa inhaftiert war.

US-Abzug aus Manbidsch „wie Übergabe“ an Russen

Bei ihrem Abzug aus der Stadt Manbidsch in Nordsyrien sollen die US-Truppen das dort eintreffende russische Militär laut einem Medienbericht teilweise unterstützt haben. „Im Grunde genommen war es eine Übergabe“, zitierte das Magazin „Newsweek“ einen ranghohen Mitarbeiter im Pentagon. Der Abzug aus Manbidsch sei ein „schneller Abgang“ gewesen, eine Art gemeinsamen „Rundgang“ mit den Russen habe es nicht gegeben. Ziel sei gewesen, mit „so vielen Dingen wie möglich“ abzuziehen und dabei „jegliches sensibles Gerät“ zu zerstören.

Grafik zeigt Karte Syriens
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Weiterhin Kämpfe um wichtigen Grenzort

Unterdessen gehen die Kämpfe weiter. Die Kurdenmilizen begannen einen Gegenangriff auf türkische Truppen und eroberten laut Angaben von Aktivisten vom Dienstag die strategisch wichtige Grenzstadt Ras al-Ain zurück. Kämpfer der SDF hätten den Ort nach schweren Gefechten eingenommen, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Dienstag. Türkische Truppen hatten den Ort mit Unterstützung von Rebellen der syrischen Nationalarmee zwei Tage zuvor unter ihre Kontrolle gebracht. Kurdische Quellen bestätigten den Gegenangriff und die Eroberung von Ras al-Ain. Die Kurdenmilizen hätten auch das nahe gelegene Dorf Tall Halaf am Stadtrand von Ras al-Ain eingenommen.

In Kreisen der Syrischen Nationalarmee war dagegen von anhaltenden Kämpfen um Ras al-Ain die Rede. Die von der Türkei unterstützten Rebellen hätten eine schwere Attacke gegen die Angreifer in dem Grenzort begonnen, hieß es.

Vor der türkischen Militäroffensive sind nach Angaben der UNO-Organisation für Migration (IOM) mindestens 190.000 Menschen geflohen. Rund 2.000 seien auf dem Weg zur irakischen Grenze, berichtete das UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Unter den Vertriebenen sind nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks (UNICEF) 70.000 Minderjährige.

Journalisten getötet

Während der laufenden türkischen Militäroperation sind indes mindestens zwei Journalisten getötet worden. Es handle sich um einen Korrespondenten der kurdischen Medienagentur Hawar News (ANHA) und einen Korrespondenten des schwedisch-kurdischen Senders Cira TV, teilte die Organisation Reporter ohne Grenzen mit. Sie seien am Sonntag bei einem Luftangriff auf einen zivilen Konvoi getötet worden. Mindestens acht weitere Journalisten verschiedener regionaler Medien wurden verletzt.

UNO-Sicherheitsrat tritt erneut zusammen

Der UNO-Sicherheitsrat kommt am Mittwoch zu einer erneuten Sondersitzung wegen der türkischen Offensive in Nordsyrien zusammen. Die nicht öffentliche Beratung sei auf Antrag der europäischen Mitgliedstaaten im Sicherheitsrat – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien und Polen – anberaumt worden, hieß es am Dienstag aus Diplomatenkreisen.

Es handelt sich um die zweite Sondersitzung binnen einer Woche. Bereits am Donnerstag hatte der Sicherheitsrat zu Nordsyrien getagt, sich aber nicht auf eine gemeinsame Position verständigen können. Die europäischen Vertreter forderten anschließend einen Stopp des türkischen Einmarschs. Am Freitag blockierten Russland und China einen Text der USA, in dem Ankara ebenfalls zur Beendigung der Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG aufgerufen wurde.

Ungarn unterstützt Türkei

Unterstützung für die Militäroffensive der Türkei kommt unterdessen aus Budapest. Es sei „im nationalen Interesse Ungarns“, dass Ankara die Migrationsfrage in Richtung Syrien löse und nicht in Richtung Europa, erklärte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto. Ungarn ist damit das einzige EU-Land, das die international kritisierte Militäroffensive der Türkei derart offen befürwortet. „Das ungarische nationale Interesse diktiert es, dass wir es vermeiden, dass mehrere hunderttausend oder gar Millionen illegale Migranten an der Südgrenze Ungarns auftauchen“, fügte Szijjarto hinzu.