Passanten gehen an EU-Kommission in Brüssel vorbei
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Durchbruch vs. Stillstand

Brexit-Poker bleibt turbulent

Die EU und Großbritannien verhandeln weiter mit Hochdruck an einem Brexit-Abkommen. In wichtigen Punkten gebe es bereits eine Einigung, einige Fragen seien aber weiter offen, erklärte EU-Chefverhandler Michel Barnier Mittwochabend. London rechnet dagegen einem Medienbericht zufolge nicht damit, dass beide Seiten auf einen grünen Zweig kommen.

Als erklärte Zielvorgabe galt, noch am Mittwoch einen Vertragsentwurf vorzulegen, damit dieser dann am Donnerstag bzw. Freitag bereits beim EU-Gipfel gebilligt werden könnte. Laut Barnier gibt es dabei „gute Fortschritte“, aber noch keinen Durchbruch, wie der Franzose Mittwochabend in Brüssel sagte.

Auf Ebene der Fachleute herrsche Einigkeit über die Zollregelung für Nordirland und die Mitspracherechte der nordirischen Volksvertretung, und es gebe britische Zusagen, EU-Umwelt- und Sozialstandards nicht zu unterbieten, erklärten EU-Diplomaten. Nicht geklärt sei indes die Zusammenarbeit bei der Umsatz- beziehungsweise Mehrwertsteuer. Die BBC berichtete unterdessen am Abend unter Berufung auf britische Regierungskreise, dass es am Mittwoch keine Lösung geben werde.

Peter Fritz zum Ringen um das Brexit-Abkommen

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet aus Brüssel über den Stand der Verhandlungen über den Brexit zwischen der EU und Großbritannien.

Aber auch wenn die Verhandlungen erfolgreich sein sollten, sehen Diplomaten ein Problem: Weil noch kein Verhandlungstext vorliege, hätten Mitgliedstaaten die Besorgnis geäußert, dass der Text nicht rechtzeitig vor Beginn des EU-Gipfels ab Donnerstagnachmittag in den Hauptstädten geprüft werden könne. Damit könnte die Billigung durch die Staats- und Regierungschefs bei dem Treffen in Brüssel „sehr schwierig werden“.

Merkel vorsichtig optimistisch

Vorsichtig optimistisch zeigten sich indes Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. „Nach dem, was ich in den vergangenen Tagen gehört habe, glaube ich noch etwas mehr an ein solches Abkommen“, sagte Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Toulouse. Macron erklärte, er hoffe auf eine Einigung am Mittwoch, die dann am Donnerstag auf dem EU-Gipfel abgesegnet werden könne.

EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos hatte zu Mittag über Barniers morgendliche Unterrichtung für die Kommissare berichtet. Als Hinweis auf die Erfolgsaussichten sagte er nur: „Seien Sie geduldig. Sie haben drei Jahre lang gewartet. Jetzt können Sie auch noch drei Stunden warten.“ Die Verhandlungen zogen sich jedenfalls länger als gedacht. Barnier wollte die EU-Staaten eigentlich um 14.00 Uhr unterrichten, verschob das zunächst auf den späten Nachmittag und dann erneut um mehrere Stunden.

Der britische Premierminister Johnson will einen Deal bei dem am Donnerstag beginnenden Gipfel, um den Brexit wie geplant am 31. Oktober geregelt und ohne Chaos zu vollziehen. Ohne Einigung müsste der Premier nach einem britischen Gesetz ab Samstag eine Fristverlängerung bei der EU beantragen, was Johnson nicht will.

EU-Ratspräsident Donald Tusk geht gegenüber dem polnischen TVN 24 davon aus, dass noch am Mittwoch der weitere Brexit-Verlauf feststeht. Dem EU-Ratspräsidenten zufolge sind die Brexit-Verhandlungen allerdings auch kurz vor dem Ziel erneut ins Stocken geraten. „Gestern hätte ich darauf gewettet, dass der Deal fertig ist“, so Tusk: „Heute sind wieder Zweifel aufgekommen.“ Dennoch seien die „Grundlagen einer Vereinbarung fertig, und theoretisch könnten wir morgen diesen Deal mit Großbritannien annehmen“, so Tusk mit Blick auf den am Donnerstag anstehenden EU-Gipfel.

Grünes Licht aus Irland ausschlaggebend

Der große Knackpunkt in den Verhandlungen ist, wie die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Staat Irland offen gehalten werden kann. Johnson hatte dem irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar dazu vorige Woche neue Angebote gemacht und so Bewegung in den festgefahrenen Streit gebracht. In den vergangenen Tagen legte die britische Seite nach EU-Angaben noch einmal nach.

Brexit-Verhandler deu EU Michel Barnier
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Chefverhandler Barnier zieht im Brexit-Poker für die EU weiter die entscheidenden Fäden

Nach einem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Gemeinschaft verliefe die EU-Außengrenze mitten durch die irische Insel: Irland wäre weiterhin EU-Mitglied, Nordirland britische Provinz. Viele sehen dadurch nicht nur immense Schwierigkeiten für Zollkontrollen und Handel, sondern auch für den mühsam errungenen Frieden in Nordirland und das Karfreitagsfriedensabkommen von 1998.

Varadkar rechnet mit Brexit-Sondergipfel

Kommt es vor dem EU-Gipfel nicht mehr zu einem Durchbruch, könnten die EU-Staats- und Regierungschefs die Brexit-Frage vor Ende Oktober auch auf einem Sondergipfel behandeln. Der irische Regierungschef Varadkar zeigte sich in diesem Zusammenhang am Mittwoch zwar davon überzeugt, dass „alle Seiten ernsthaft ein Abkommen bis Ende des Monats wollen“ – wie EU-Diplomaten geht auch Varadkar aber davon aus, dass es im Laufe des Monats zur Abklärung der letzten offenen Details noch zu einem Brexit-Sondergipfel kommen wird.

Brexit-Informationskampagne der britischen Regierung
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Der Brexit-Termin am 31. Oktober rückt immer näher

Der britische Brexit-Minister Steve Barclay bestätigte unterdessen, dass seine Regierung ohne Abkommen um eine Verschiebung bitten würde. Für den Fall einer Einigung, die dann eine schnelle Ratifizierung durch das Unterhaus erfordern würde, sagte Barclay aber, es sei „wichtig, dass wir am 31. Oktober austreten“.

„Ermutigende Zeichen“

Auch vonseiten der österreichischen Regierung zeigte man sich optimistisch, dass es bei den Brexit-Gesprächen zu einer Lösung kommen könnte. „Es gibt durchaus ermutigende Zeichen und Signale der handelnden Personen“, sagte Regierungssprecher Alexander Winterstein heute beim wöchentlichen Pressebriefing.

Termine, Optionen für Brexit, Karte Großbritannien
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Auf die Frage, wie Österreich der ventilierten Variante einer Zollgrenze in der Irischen See gegenüberstehen würde, sagte Winterstein, er könne nicht sagen, wie sich Österreich einer Lösung gegenüber verhalten werde, die noch nicht vorliege. Die Verhandlungen würden jedenfalls sehr intensiv und ernsthaft geführt. Weiter auf dem Tisch sei dabei auch eine neuerliche Verschiebung des Brexit-Datums, wie neben Kanzlerin Brigitte Bierlein auch Außenminister Alexander Schallenberg andeutete.