Parlamentspräsident John Bercow vor dem Palace of Westminster in London
APA/AFP/Tolga Akmen
Neuer Anlauf für Brexit-Votum

Alle warten auf Bercow-Entscheidung

Neuer Anlauf: Das britische Parlament kann möglicherweise am Montag über das zwischen Premier Boris Johnson und der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen abstimmen. Entscheidend ist jedoch, ob Parlamentspräsident John Bercow am Nachmittag den Weg dafür freigibt. Für einen von der Regierung angestrebten Austritt am 31. Oktober gibt es zahlreiche Hindernisse.

Johnson pochte trotz seiner Niederlage im Unterhaus am Samstag, die ihn letztlich gegen seinen Wunsch dazu gezwungen hatte, formell einen Aufschub bei der EU zu beantragen, weiter auf einen Austritt Ende des Monats. Deswegen soll so schnell wie möglich im Unterhaus über seinen Deal abgestimmt werden.

Gibt Bercow grünes Licht, könnte bereits am späten Nachmittag oder Abend eine Abstimmung über das Abkommen stattfinden. Die Regierung, die im Unterhaus keine Mehrheit hat, äußerte bis zuletzt Zuversicht, dafür nun ausreichend Stimmen zu haben. Ein Sprecher Johnsons stellte Montagmittag klar, dass die Regierung von einer Abstimmung absehe, sollte Bercow diesbezüglich auch Abänderungsanträge zulassen.

Nein von Bercow wahrscheinlich

Einigen Beobachtern zufolge scheint es wahrscheinlicher, dass der Parlamentspräsident ein Votum ablehnt; einerseits, weil eine Abstimmung und Debatte diesbezüglich bereits am Samstag angesetzt war. Andererseits, weil ein neuerliches Votum im Gegensatz zum Letwin-Abänderungsantrag steht, dem am Wochenende eine Mehrheit im Unterhaus zustimmte. Der vom unabhängigen Abgeordneten Oliver Letwin, einem ehemaligen Tory, eingebrachte Antrag sieht vor, die Entscheidung über den Deal bis zur Verabschiedung des Ratifizierungsgesetzes aufzuschieben.

Vor allem dieses Ratifizierungsgesetz ist entscheidend für den weiteren Brexit-Fahrplan. Eingebracht wird es ebenso am Montag. Denkbar ist, dass das Gesetz bis Dienstag entscheidende parlamentarische Hürden nimmt. Besonders interessant werde es, schreibt der „Guardian“, aber erst danach. Denn anschließend haben die Abgeordneten die Möglichkeit, weitere Abänderungsanträge, die das Abkommen im Kern verändern würden, einzubringen. „Die parlamentarischen Manöver, die wir am Samstag erlebt haben, werden im Vergleich zum Ratifizierungsgesetz wie ein Spaziergang im Park erscheinen“, schrieb der Sky-News-Politikjournalist Lewis Goodall auf Twitter.

Änderungsanträge als Johnsons größte Hindernisse

Der Fokus der britischen Presse lag besonders auf drei möglichen Anträgen: einem Antrag über ein zweites Referendum, einem Antrag zu einer dauerhaften Zollunion mit der EU und einem Antrag über die Ausweitung der Übergangsphase. Vor allem die letzten beiden könnten im Unterhaus viel Unterstützung – etwa von der Labour-Partei, der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) und Tory-Rebellen – finden.

Sollte einer der Anträge durchgehen, müsste Johnson entscheiden, ob er das akzeptiert. Dem Regierungssprecher zufolge lehne der Premier sowohl ein Referendum als auch eine dauerhafte Zollunion ab. Eine Neuwahl stehe im Raum. „Sobald ein Aufschub genehmigt wird, wird es für die Oppositionsparteien sehr schwer, eine Neuwahl zu blockieren“, schrieb BBC-Journalistin Laura Kuenssberg in einer Analyse. Johnson pochte in den vergangenen Monaten darauf. Labour legte sich bis vor Kurzem quer. Am Samstag sagte die Partei, dass Neuwahlen nun unvermeidlich seien.

Eva Pöcksteiner (ORF) über den Brexit

ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner darüber, ob es am Abend zu einer Abstimmung über Johnsons Brexit-Deal kommt oder nicht.

Ein Austritt mit Abkommen Ende Oktober ist also nur dann wahrscheinlich, wenn Johnsons Deal diese Woche noch Zustimmung bekommt und ein Ratifizierungsgesetz alle Hürden nimmt. Ein „No Deal“-Szenario, mit dem die britische Regierung versucht, Druck auf das Parlament auszuüben, hängt davon ab, ob Brüssel einen weiteren Aufschub ablehnt. Am Montag baten sowohl der Regierungschef von Wales, Mark Drakeford, sowie die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon die EU um Zustimmung.

Aufschub bis Februar 2020 steht im Raum

Die Spitze des EU-Parlament will am Abend beraten, ob die Ratifizierung des Brexit-Vertrags auf EU-Seite noch in dieser Woche abgeschlossen werden könnte. Parlamentsvizepräsidentin Nicola Beer sagte, man werde sicher rechtzeitig fertig, doch auf britischer Seite werde es schwierig. Deshalb sei eine Verschiebung des Austrittstermins 31. Oktober wahrscheinlich. Dazu müsste EU-Ratspräsident Donald Tusk einen Sondergipfel einberufen. „Bevor es einen Rechtsakt gibt, der die britische Ratifizierung bestätigt, sollten wir nicht ratifizieren“, sagte der Grünen-Fraktionschef Philippe Lamberts.

Laut einem Zeitungsbericht will die EU den Brexit bis Februar 2020 aufschieben, sollte der britische Premier diese Woche nicht erfolgreich sein. Das Datum würde aber nicht bindend sein, berichtete die „Sunday Times“ unter Berufung auf mit der Sache vertraute Diplomaten. So solle ein Ausstieg auch zum 1. November, 15. Dezember bzw. im Jänner möglich sein, sollte Johnsons Brexit-Deal bis dahin ratifiziert sein.

Johnson hatte vor wenigen Tagen nach langem Streit mit der EU einen geänderten Austrittsvertrag vereinbart, der sofort von den EU-Staats- und Regierungschefs gebilligt wurde. Neu geklärt wurde die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland auch nach dem Brexit offen bleiben kann. Zudem vereinbarte Johnson mit Brüssel in einer politischen Erklärung, dass es auf längere Sicht nur eine lose Bindung seines Landes an die EU geben soll.

Gericht hält sich Entscheidung zu Johnson-Vorgehen offen

Ein Gericht im schottischen Edinburgh hielt sich unterdessen eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Johnsons Verhalten im Brexit-Tauziehen offen. Der britische Premier hatte am Samstag einen nicht unterzeichneten Brief nach Brüssel geschickt, mit dem er die EU – im Einklang mit der geltenden britischen Rechtslage – um einen weiteren Brexit-Aufschub bittet. In einem weiteren Brief hatte er aber erklärt, dass er einen Aufschub eigentlich nicht befürworte – das hatte Kritiker vor Gericht ziehen lassen, weil sie befürchten, Johnson torpediere die auf einem Gesetz fußende Bitte um einen Aufschub.

Die Richter in Edinburgh erklärten, sie wollten vor einer Entscheidung nun erst beobachten, wie sich die Regierung in London weiter verhalte und ob sie vollends im Einklang mit dem Gesetz handle. Im Zweifel könne es noch immer zu einer Rüge kommen. Allerdings hatte Tusk bereits über eine Sprecherin erklären lassen, er akzeptiere die von Johnson gewählte Form. Die Tatsache, dass der Brief nicht unterschrieben wurde, ändere nichts an der Vorgehensweise in Brüssel, hieß es.