„Casa Rosada“ in Beunos Aires
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Argentinien

Die Wahl des „am wenigsten Schlimmen“

In Argentinien wird am Sonntag ein neuer Präsident gewählt. Umfragen zufolge dürfte der neoliberale Amtsinhaber Mauricio Macri eine herbe Niederlage einfahren und der linkspopulistische Kandidat Alberto Fernandez den Peronisten ein großes Comeback bescheren. Doch auf den zukünftigen Präsidenten warten große Aufgaben, denn wirtschaftlich befindet sich das Land vor dem Abgrund.

Schulden über 100 Milliarden US-Dollar, eine der weltweit höchsten Inflationsraten, steigende Arbeitslosigkeit und eine um sich greifende Armut: Das drittgrößte Land Lateinamerikas steckt, wieder einmal, in einer schweren Wirtschaftskrise. „Die aktuelle Situation ist katastrophal. Dieses Jahr gibt es wahrscheinlich eine Inflation von 50 Prozent“, sagte Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und Leiter der Forschungsgruppe Lateinamerika gegenüber ORF.at.

Die Löhne seien gleich geblieben, während sich die Preise für Strom, Gas oder öffentliche Verkehrsmittel teilweise verzehnfacht hätten. Aktuell lebt bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend. Spricht man mit Argentiniern und Argentinierinnen über die Politik ihres Landes, fällt meist gleich zu Beginn des Gesprächs das Wort Korruption. Immer wieder ist auch zu hören, dass die meisten nicht jenen Kandidaten wählen, den sie tatsächlich bevorzugen, sondern „el menos peor“ – das „am wenigsten Schlimme“.

Mauricio Macri
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Macri versprach vor seinem Amtsantritt einen Investititionsregen – da dieser jedoch ausblieb, dürfte eine zweite Amtszeit unwahrscheinlich sein

Politisches Schicksal hängt an Wechselwählern

Genau damit hätten die beide antretenden Großparteien auch Wahlkampf gemacht: Dass sie weniger schlecht sind als die Gegenseite, so Brand. Die beiden Großparteien, das sind die linkspopulistischen Peronisten mit Fernandez als Spitzenkandidat und Macris Wahlbündnis Cambiemos – Gemeinsam für den Wandel.

Während die Peronisten für einen starken Staat und Eingriffe der Politik in die Wirtschaft stehen, tritt Macri für eine deregulierte Wirtschaft und weniger Einfluss des Staates ein. Beide Seiten hätten jeweils etwa ein Drittel der Wählerschaft hinter sich, der Rest sei unentschieden und könne keinem Lager zugerechnet werden, schreibt die Monatszeitung „Le Monde diplomatique“ („LMd“). „An diesen Wechselwählern hängt das politische Schicksal Argentiniens“, heißt es dort.

Abrechnung mit dem Präsidenten

Die bevorstehenden Wahlen – neben dem Präsidenten werden auch die beiden Parlamentskammern, das Abgeordnetenhaus und der Senat teilweise gewählt – dürften bei vielen Argentiniern und Argentinierinnen eine Abrechnung mit der derzeitigen Politik werden. Gezeigt hat sich das bereits bei der landesweiten Vorwahl im August, als der Amtsinhaber Macri überraschend deutlich gegen den Oppositionskanditaten Fernandez verloren hatte.

Macri kam lediglich auf 32 Prozent der Stimmen, Fernandez auf rund 47. Da die Vorwahlen als wichtiger Stimmungstest für die Präsidentschaftswahl gelten, stehen die Chancen für Macri, seinen Rückstand bis dahin noch aufzuholen, schlecht. Derzeit liegt Fernandez in Umfragen bei Werten bis zu 55 Prozent, Macri stagniert bei 35. Sollten die Umfragen Recht behalten, wäre nicht einmal mehr eine Stichwahl erforderlich.

Proteste in Argentinien
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Argentiner und Argentinerinnen demonstrierten im September gegen die Sparmaßnahmen des Präsidenten

Magere Bilanz

„Macri hatte im Wahlkampf 2015 versprochen, wenn er Präsident würde, wird es Investitionen regnen, und er würde die Korruption bekämpfen. Beides ist nicht geschehen. Nun wünscht sich die Mehrheit ein Ende der Macri-Regierung“, so Brand. Sowohl die Inflation als auch die Armut und Arbeitslosigkeit nahmen seit Macris Amtsantritt zu, das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung schrumpfte seitdem von rund 15.000 Dollar auf unter 10.000 Dollar. Wenn Fernandez gewinne, dann wegen dieser katastrophalen Bilanz und nicht, weil er selbst weitreichende Vorschläge hätte, so Brand.

Erinnerung an alte Krise

„Bei vielen wecken die wirtschaftlichen Turbulenzen Erinnerungen an die Wirtschaftskrise des Landes von 2001“, schreibt die „Financial Times“. Die Auswirkungen der damals größten Staatspleite aller Zeiten waren bis ins Jahr 2005 spürbar. Erst 2015 schaffte es Argentinien, sich wieder auf dem Markt zu finanzieren.

Macris Fehler sei es gewesen, so analysiert „LMd“, dass er die globale Situation falsch einschätzte und danach auf die einzig ihm noch verbliebene Finanzierungsquelle zurückgriff, um eine erneute Staatspleite abzuwenden: den Internationalen Währungsfonds (IWF). Dieser gewährte Argentinien mit 57 Milliarden Dollar den größten Kredit in seiner Geschichte. Die im Gegenzug geforderten Maßnahmen seien jedoch sozial nicht tragbar gewesen, so „LMd“.

Wahlen als „Wendepunkt“

Somit mündete die wirtschaftliche Notlage in eine soziale, die wiederum zur politischen Schwächung Macris führte. „Argentiniens Präsident ist nicht nur als Reformer und Stabilisator gescheitert – sondern auch als Sozial­politiker. Seine Amtszeit hat für gewöhnliche Leute nichts Zählbares gebracht“, schreibt das Onlinemagazin Republik in einer umfassenden Analyse. Auch der argentinische Politikberater Martin Romeo kritisierte im Gespräch mit ORF.at, dass sich die Regierung mehr besorgt über die eigene Wahlkampagne zeigte und weniger mit der Bewältigung der Probleme des Landes beschäftigt war. Die Wahlen werden daher „ein Wendepunkt in der Toleranz der argentinischen Bevölkerung gegenüber den Anpassungsmaßnahmen sein“, so Romeo.

Alberto Fernandez
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Oppositionskanditat Ferndandez gilt als Favorit bei der Präsidentschaftswahl. Er ist scharfer Kritiker der neoliberalen Politik Macris.

„Jahrzehntelange Fehlentwicklungen“

Macris Anhänger, so schreibt die „Zeit“, hielten der Kritik entgegen, dass der Präsident in dieser Ära angespannter Weltmärkte und niedriger Preise an den Rohstoffmärkten sowie durch den geerbten volkswirtschaftlichen Totalschaden gar nicht viel mehr ausrichten konnte. Auch Macri selbst verteidigte sich damit, dass seine vierjährige Amtszeit nicht gereicht hätte, um die Fehlentwicklungen von Jahrzehnten peronistischer Regierungen zu korrigieren.

Eine, die diese „peronistischen Jahrzehnte“ mitprägte, ist Macris Vorgängerin Cristina Kirchner. Die langjährige Bewohnerin des Präsidentensitzes in Buenos Aires – zunächst als Ehefrau von Präsident Nestor Kirchner (2003 bis 2007) und danach als Präsidentin (2007 bis 2015) – steht auch diesmal zur Wahl. Wenn auch nur in der zweiten Reihe.

Fernandez mit Kirchner an seiner Seite

Die wegen Misswirtschaft und zahlreicher Korruptionsermittlungen umstrittene Politikerin hat wegen ungewisser Erfolgsaussichten auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur verzichtet. Stattdessen kandidiert sie für das Amt der Vizepräsidentin und ging mit ihrem früheren Kabinettschef Fernandez, mit dem sie sich im Jahr 2008 überworfen hatte, das politische Zweckbündnis Frente de Todos (Front eines Jeden) ein.

Im Wahlkampffinish trat Kirchner aber zunehmend eigenständig auf, was Spekulationen über die Tragfähigkeit der Allianz mit Fernandez befeuerte. Bei einem Wahlsieg kommt es laut „LMd“ jedoch auf ein gutes Zusammenspiel zwischen Fernandez und Kirchner an, um die Interessen der heterogenen Gruppe der Peronisten vereinen zu können.

Die argentinische Präsidentin Christina Fernandez
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Kirchner kämpft an der Seite von Fernandez um den Wiedereinzug in die Regierung

Wenig Spielraum für zukünftige Regierung

Die größte Aufgabe für den Wahlsieger sei allerdings die Stabilisierung der Wirtschaft, um so die drastische Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zu stoppen, sagte Brand. Hier brauche es teilweise sogar eine Neuausrichtung des Wirtschaftssystems. Es gehe darum, Alternativen gegen die immerwährende Ressourcenausbeutung und Weltmarktabhängigkeit zu schaffen – auch, wenn das voraussichtlich zu Konflikten mit starken Kapitalgruppen führe, die in den vergangenen Jahren vom wirtschaftsfreundlichen Kurs Macris profitierten.

Fernandez erklärte etwa bereits, er wolle sowohl das Hilfsprogramm mit dem IWF als auch das Mercosur-Abkommen mit der EU neu verhandeln. „Fernandez würde wieder stärker in die Wirtschaft intervenieren, um die Macht der großen Wirtschaftsgruppen etwas einzuhegen. Ob das gelingt, ist eine offene Frage“, so Brand. Denn auch Fernandez, sollte er die Wahl gewinnen, bliebe nicht viel Spielraum, so Brand. Diesen müsste er sich erst „erkämpfen“.

Auch „LMd“ schreibt, Fernandez wisse genau, dass ein Wiederaufbau des Landes Jahre dauern werde. Entsprechend habe er sich bemüht, die Erwartungen klein zu halten. Der Einschätzung Brands zufolge dürfte die Mehrheit der Argentinier und Argentinierinnen allerdings ohnehin nicht allzu große Erwartungen an die neue Regierung haben.