Protest gegen Waldsterben 1989
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Pop, Protest und Panik

Als der saure Regen kam

Schon im Jahr 1982 stand es für die Welt „5 Minuten vor 12“ – zumindest für Udo Jürgens. „Ich sah Regen wie Gift, wo er hinfiel, da starb das Laub“, sang er in dem Lied, und griff dabei eine der prägnantesten Umweltkrisen der 1980er auf: das Waldsterben, verursacht durch den sauren Regen. Ein Markstein in der Umweltgeschichte, der heute vielfach zu Vergleichen mit der Klimakrise verleitet.

„Saurer Regen über Deutschland: Der Wald stirbt“: Es war ein drastisches „Spiegel“-Titelblatt aus dem Jahr 1981, das dem Phänomen Öffentlichkeit verschaffte. Zuvor hatten Forscher und Forstwirte wegen schwerer Schäden an Baumbeständen in Mittel-, Nord- und Osteuropa Alarm geschlagen. Sie trafen auf lichte Baumkronen, dürre Wipfel und ausgedünnte Stämme an der Oberfläche. Unter der Erde: übersäuerte Böden und beschädigtes Wurzelwerk. Dystopische Bilder karger Wälder landeten über die Fernsehgeräte in den Wohnzimmern und sollten dort in den kommenden Jahren für Entsetzen sorgen. Die Angst: „Stirbt der Baum, stirbt der Mensch“.

Relativ rasch herrschte Konsens darüber, dass saurer Regen schuld an den Schäden war. Er entstand aus der rasend gewachsenen Luftverschmutzung. Durch ungefiltert hinausgeblasene Abgase aus Verkehr und Industrie kommen Schadstoffe wie Stickstoffmonoxid, Stickstoffdioxid und Schwefeldioxid in die Atmosphäre, reagieren mit Wassermolekülen und sorgen über die Bildung schwefliger Säuren dafür, dass das Regenwasser einen niedrigen pH-Wert bekommt. Der Niederschlag sorgt für übersäuerte Böden und bringt den Nährstoffhaushalt der Vegetation aus den Fugen.

Eine Schulklasse bei einem Ausflug auf dem „Waldfriedhof“ zwischen toten Bäumen 1983
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Eine Schulklasse auf einem „Waldfriedhof“ im deutschen Altenau, 1983

Die Angst um den Wald wurde zum Massenphänomen, die Luftverschmutzung geriet ins Visier der Ökobewegung. Für sie wurde das Waldsterben zu einem Kernmoment, den man „in einem Atemzug mit der Anti-Atom-Bewegung nennen kann“, so Franz Maier, Präsident des Umweltdachverbands, gegenüber ORF.at. Doch auch über die grüne Bewegung hinaus erwies sich der Wald als kleinster gemeinsamer Nenner ganz verschiedener Bevölkerungsgruppen: Über ideologische Grenzen und teils auch über den Eisernen Vorhang hinweg wurde der Schutz der Wälder propagiert.

Unser Klima, unsere Zukunft

Am 12. November will der ORF2-Klimatag zur Debatte anregen. Von 6.30 Uhr bis 2.35 Uhr widmet sich der Sender zehn Stunden lang dem Thema „Unser Klima – Unsere Zukunft“ – mehr dazu in tv.ORF.at.

Die Popkultur nahm sich des Themas ebenfalls an – Konstantin Wecker sang in „Der Baum“ von der „mickrigen deutschen Eiche“, Alexandras „Mein Freund der Baum“ erlebte eine Renaissance. In Westdeutschland legte die Bundespost „Rettet den Wald“-Briefmarken auf, in Österreich karrten Umweltschutzgruppen eine abgestorbene Fichte aus Vorarlberg nach Wien, um auch die Stadtbevölkerung zu alarmieren. Der Umweltaktionismus blühte ohnehin: Auf Kraftwerksschloten, Kathedralen und Autobahnbrücken prangten Umweltbanner, auf Bäumen Totenköpfe und Kreuze.

Protest gegen Waldsterben 1984
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Protestgraffito auf einer Eisenbahnbrücke, 1984

Der Protest der Umweltbewegung trug jedenfalls Früchte. Tatsächlich gilt das Waldsterben heute als ein Paradebeispiel für eine mit politischen und diplomatischen Mitteln rechtzeitig abgewandte Umweltkrise, die vielen auch in Hinsicht Klimawandel Mut macht. So wurde mitten in der Waldsterbedebatte 1983 das Genfer Luftreinhalteabkommen zwischen europäischen Staaten, den USA und Kanada und der Sowjetunion geschlossen. Rauchgase wurden zunehmend entschwefelt, der Katalysator setzte sich durch, und für Schwefeldioxidausstoß und Stickoxide wurden gesetzlich Grenzwerte festgelegt. Der Zusammenbruch dreckiger Industrie in Osteuropa half freilich ebenfalls.

Der Kanon der unsichtbaren Gefahren

Ist das Waldsterben also Geschichte? Lange über die 80er hinaus hatte der saure Regen jedenfalls einen Fixplatz in Schulbüchern und wurde gemeinsam mit dem Ozonloch und dem zerstörerischen Potenzial der Atomkraft zur Chiffre für eine besonders beunruhigende Art der Umweltzerstörung: unsichtbar, omnipräsent und menschengemacht. Gleichzeitig wuchs das Bewusstsein dafür, dass Umweltverschmutzung eine grenzüberschreitende Angelegenheit ist: Die Wälder starben nicht nur in der Nähe von Industrieschloten und Autobahnen, sondern auch weit von ihnen entfernt.

Heute wird gegen die Untätigkeit im Kampf gegen die ebenfalls globale und in vielen Facetten unsichtbare Klimakrise protestiert, und es fällt nicht allzu schwer, Parallelen zu ziehen: Gewisse Protestformen, Bilder, Tonalitäten, Ängste und Medien- und Metadebatten sind zumindest auf den ersten Blick nicht allzu weit voneinander entfernt. Wohl auch deswegen wird das Waldsterben immer wieder als Argument für eine vermeintlich grassierende Klimahysterie herangezogen, die der Waldsterbehysterie von damals ähnle. Denn der Wald lebt ja auch noch.

Extinction Rebellion Protest in London
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Der Klimaprotest der Gruppe „Extinction Rebellion“ setzt heute ebenfalls stark auf Aktionismus

„Er ist nicht gestorben. Aber nicht, weil man nichts getan hat, sondern eben, weil man Maßnahmen gesetzt hat“, sagte dazu Umweltdachverband-Präsident Maier. „Die Leugner des Waldsterbens hat es genauso gegeben wie heute die Klimawandelleugner. Das ist interessengeleitet, das sind Mechanismen, die gab es immer“, so Maier. Für ihn zeige „der Vergleich zur Klimakrise, dass Appelle an den Einzelnen und Bewusstseinsbildung bei Weitem nicht ausreichen. Das ist auch wichtig, aber es geht nicht ohne Rahmenbedingungen und gesetzliche Vorgaben“, sagte er mit Blick auf die Politik.

Komplexität: Kein Vergleich mit Klimawandel

Maier betonte aber auch, dass der Klimawandel eine weitaus komplexere Herausforderung ist. „Die Ursache des Waldsterbens war tendenziell monokausal – deshalb hat man es mit dem Eindämmen der Luftverschmutzung relativ schnell in den Griff bekommen. Doch jetzt in der Klimakrise gibt es eine ganze Reihe an Stellschrauben, an denen gedreht werden muss, um der Negativentwicklung entgegenzuwirken. Das geht von steuerlichen Maßnahmen bis hin zur Beseitigung kontraproduktiver Förderungen wie jener für die Flugindustrie oder den Dieseltreibstoff“, so Maier.

Waldsterben-Beitrag aus dem Jahr 1986

Das Waldsterben war auch Thema in dieser Ausgabe des Magazins „Schilling“ aus dem Jahr 1986 – „keine Besserung zu verzeichnen“, hieß es damals.

Ebenfalls ganz entscheidend: Mit erheblichen persönlichen Einschnitten für den Einzelnen war die Forderung nach einem Ende des Waldsterbens nicht verbunden. Eher im Gegenteil. Bei der Klimakrise ist das bekanntlich eine andere Geschichte: „Es geht auch um Verhaltensänderung und Lebensstilfragen. Was wir als Wohlstandsgesellschaft erleben und genießen, wird stark infrage gestellt.“ Auf der Haben-Seite stehe, dass man im Vergleich zu den 1980er Jahren heute weiterentwickelte, politische Systeme und „mehr Vernetzung, die EU, mehr Diplomatie“ habe.

„Meine wichtigste Botschaft ist: Umweltprobleme muss man nicht erleiden, man kann dagegen vorgehen“, so der Umwelt- und Naturschutzexperte. „In erster Linie ist die Politik gefordert. Man kennt die Hebel, das ist kein wissenschaftliches Problem mehr.“ Er wünsche sich auch eine „Debatte, die nicht hysterisch ist, sondern aufzeigt, welche Wege es gibt“.

Das Waldsterben 2.0

Über die Klimakrise lässt sich auch der Bogen zum heutigen Zustand des Waldes schlagen – denn der ist bekanntlich vielerorts schlecht. Konkret auf den sauren Regen gemünzt, zeigt eine im Vorjahr veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus zehn Ländern zwar, dass sich die Bodenqualität in Europas Wäldern verbessert hat und der Gehalt an Sulfat, Aluminium und Stickstoff gesunken ist. Die Forscherinnen und Forscher stellen aber auch fest, dass sich der Säuregehalt des Bodenwassers noch nicht von der Versauerung des Bodens durch sauren Regen erholt hat.

Verlust Baumbestand und Wald in Österreich

Gleichzeitig haben wir es heute mit einem „Waldsterben 2.0“ zu tun – ausgelöst durch Schädlinge wie den Borkenkäfer, Monokulturen, Dürre, extreme Wetterereignisse. Es handelt sich teils um Probleme, die seit Jahrzehnten bekannt sind, aber nicht diskutiert wurden – auch nicht in der Debatte über das Waldsterben. Der Hintergrund: oftmals der Klimawandel. „Der Verfall der Wälder ist nur ein Symptom für allgemeine Umweltverschmutzung, deren Opfer am Ende auch der Mensch ist“, hieß es 1983 in der Sendung „Österreich-Blick“. Das jedenfalls trifft damals wie heute zu.