Szene aus dem Film My Zoe
© 2019 Warner Bros. Ent., Stephan Rabold
„My Zoe“

Muttersein am Rand des Abgrunds

Mit ihrer siebenten Regiearbeit lotet Julie Delpy Grenzen aus. „My Zoe“ handelt von einer Frau, die um das Sorgerecht für ihre Tochter kämpft. Dann geschieht ein Unglück – und aus dem Familiendrama wird ein Science-Fiction-Film über eine große moralische Frage.

Nach der Trennung von ihrem Mann James (Richard Armitage) ist die Genetikerin Isabelle (Delpy) dabei, ihr Privatleben neu zu sortieren. Die Streitereien ums Sorgerecht für Tochter Zoe zehren an ihren Kräften. Beruflich sollte sie viel unterwegs sein, aber jede kurze Abwesenheit wird von ihrem Exmann benutzt, um sie bei der gerichtlichen Mediatorin als schlechte Mutter anzuschwärzen.

Nichts ist ihm recht: nicht das gemeinsam ausgesuchte Kindermädchen, nicht Zoes Schule, und schon gar nicht, dass Isabelle einen neuen Freund hat. Dass James und Isabelle einander einst geliebt haben, ist kaum noch zu spüren; dass die kleine Zoe zwischen den Eltern nicht aufgerieben wird, gelingt nur durch deren äußerstes Bemühen, Konflikte von ihr fernzuhalten. Als wäre das alles nicht genug, passiert dann ein Unfall. Und auf einmal wird aus dem Familiendrama ein völlig anderer Film.

„Wir dachten nicht, dass sie es draufhat“

„My Zoe“ ist die siebente Regiearbeit von Delpy, und jene, um die sie am heftigsten kämpfen musste. Dabei sollte man meinen, dass Delpy, als Schauspielerin zweifach oscarnominiert und mit bereits sechs erfolgreichen Filmen (darunter „Zwei Tage in New York“) in der Tasche eine einigermaßen sichere Bank ist. Gegenüber ORF.at sagte Delpy, das Gegenteil sei der Fall: „Die Leute glauben vielleicht, Julie Delpy hatte ein paar erfolgreiche Filme, die kann jetzt machen, was sie will. Aber nein, es ist echt hart, nach wie vor, es ist eine verdammt schwere Welt für Filmschaffende.“

Szene aus dem Film My Zoe
© 2019 Warner Bros. Ent., Stephan Rabold
Der schlimmste Ort Intensivstation: Isabelle (Delpy) und James (Armitage) bangen um das Leben ihrer Tochter

Schon als Teenager hatte Delpy ihr erstes Drehbuch verfasst, erst mit 38 Jahren durfte sie endlich ihren ersten Film selbst inszenieren. Regiekollegen wie Jean-Luc Godard, Krzysztof Kieslowski, Richard Linklater und Jim Jarmusch schätzten sie nur als Schauspielerin, und als sie vor zwei Jahren beim Europäischen Filmpreis für ihre Leistungen um das Weltkino ausgezeichnet wurde, sagte Volker Schlöndorff in seiner Laudatio selbstkritisch: „Sie wollte immer ihre eigenen Filme machen, und wir wollten sie davon abhalten, damit sie bei der Schauspielerei bleibt. Wir dachten nicht, dass sie es draufhat.“

Zuerst die Vorwürfe, dann die Katastrophe

Delpy hat es aber drauf – auch, was die Finanzierung des Films betrifft. „My Zoe“ wäre beinahe nicht zustande gekommen, weil ein Geldgeber wenige Tage vor Produktionsbeginn abgesprungen war. Delpy nutzte die Öffentlichkeit des Europäischen Filmpreises, um via Crowdfunding Aufmerksamkeit und Geld für den Film aufzustellen. „Ich hab mir anhören müssen, ich sei als Frau zu emotional“, sagt sie. Gerade die schwierige Figur von Isabelles Ex-Ehemann James sei den Financiers nicht recht gewesen, „der war ihnen unangenehm. Aber es gibt nach wie vor Männer, die ihre Partnerinnen finanziell, persönlich und emotional kontrollieren wollen, dieses Verhalten ist noch nicht ausgestorben.“

Der erste Teil von „My Zoe“ beobachtet die Mechanismen gegenseitiger Vorwürfe, die giftige Beziehungsdynamik zwischen einst Liebenden, die die verletzlichsten Stellen des anderen genau kennen, einander Erziehungsmethoden, Rücksichtslosigkeit, Egoismus vorhalten. Es sind harte Bandagen, die die beiden gegeneinander auffahren. Der kleinste Fehltritt kann zur großen Katastrophe führen, dem Verlust des Sorgerechts. Als dann eine noch größere Katastrophe eintritt, ist für die beiden Eltern zunächst der ewige Streit beinahe tröstlich, weil so vertraut.

„Wie eine Wissenschaftlerin“

Die Überlegungen, die Delpy hier auslotet, hätten viel mit ihr selbst zu tun, ihrer Furcht, geliebte Menschen zu verlieren, sagt sie: „Nichts in meinem Leben begleitet mich so sehr wie diese Furcht. Meine Mama hatte Krebs, als ich auf die Welt kam, ich wusste von Anfang an mit absoluter Gewissheit, dass meine Mama stirbt. Das hat mich mein Leben lang bestimmt, dieses Gefühl dafür wie einzigartig und unwiederbringlich Menschen sind, und wie sie jede Sekunde auch für immer weg sein können.“

Gerade darum habe sie versucht, diesen Film analytisch anzugehen, „wie eine Wissenschaftlerin, ohne die üblichen manipulativen Tricks des Spielfilmemachens, etwa ohne Filmmusik. Der Film ist roh, sehr direkt.“ Erst im Warteraum der Intensivstation eines Kinderkrankenhauses, einem der entsetzlichsten Orte für Eltern, wird wichtig, was zuvor eine Nebensächlichkeit war: „My Zoe“ spielt in einer nahen Zukunft, die nur an Details zu bemerken war, einem futuristischen Smartphone-Armband, einem zerknüllten Tablet.

Szene aus dem Film My Zoe
© 2019 Warner Bros. Ent., Stephan Rabold
Laura (Gemma Arterton) und Thomas Fischer (Daniel Brühl) stellen Isabelle vor eine erschütternde Wahl

Die medizinische Forschung stellt Isabelle schließlich vor ein Dilemma, das zuvor denkunmöglich war: Daniel Brühl als Fortpflanzungsmediziner tritt auf, Gemma Arterton als seine Ehefrau ist sein Gewissen. Dieser nach Perspektive hoffnungsvolle oder furchteinflößende Schwenk in Richtung Science-Fiction holt „My Zoe“ in die Nähe von Jessica Hausners „Little Joe“ (derzeit im Kino), wo ebenfalls eine Wissenschaftlerin und Mutter über die Ethik medizinisch-technischer Machbarkeit entscheiden muss.

Dass beide Regisseurinnen Genreelemente nutzen, um diese Fragen auszuloten, macht „Little Joe“ und „My Zoe“ zu reizvollen Geschwisterfilmen, auch in ihrer Weigerung, ein moralisches Urteil zu fällen. Als Delpys Figur eine drastische Entscheidung trifft, liegt der Verdacht des Wahnsinns und des Egoismus in der Luft. Dass die Entscheidung dennoch für das Publikum nachvollziehbar wird, ist Delpys intelligentem, entschlossenem Schauspiel zu verdanken.