Panzer und Begleitfahrzeug
Reuters/Eva Plevier
NATO-„Hirntod“

Suche nach richtiger Verteidigung Europas

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Aussage über den „Hirntod“ des transatlantischen Bündnisses NATO die Debatte über die richtige Verteidigung Europas losgetreten. Konzepte gibt es offenbar viele. Während sich Macron dafür ausspricht, die EU unabhängiger vom Schutz der NATO und damit auch der USA zu machen, fühlen sich die baltischen Staaten nicht genug beachtet. Im Mittelpunkt: die Furcht vor Russland.

Macron forderte neben einer vermehrten europäischen Eigenständigkeit in Verteidigungsfragen auch eine Grundsatzdebatte auf dem NATO-Jubiläumsgipfel zum 70-jährigen Bestehen Anfang Dezember in London. Gleichzeitig drängte er darauf, die militärische Beistandsklausel des EU-Vertrages zu stärken – eben mit dem Ziel, die EU in Verteidigungssachen unabhängiger von dem transatlantischen Bündnis zu machen. Doch auch hier schlägt ihm heftiger Wind entgegen.

Laut „Süddeutscher Zeitung“ („SZ“, Onlineausgabe) gehen Experten davon aus, dass der Aufbau eines europäischen Verteidigungsbündnisses, egal in welcher Form, einfach zu teuer kommt. Die Investitionen für einen Ersatz der von den USA übernommenen Leistungen würden für die europäischen Länder zu immensen Zusatzkosten führen.

Rafale Kampfjet der Air Force France
Reuters/Regis Duvignau
Ein Rafale-Kampfjet des französischen Herstellers Dassault

Lange „Mängelliste“ Europas

Laut einer Studie des Verteidigungsexperten Bastian Giegerich vom International Institute for Strategic Studies (IISS) in London, die mehrere Szenarien durchspielt, würden die Kosten – je nachdem, ob auch internationale Seerouten gesichert oder gar ein Landkrieg umfasst werden soll – zwischen 95 und 357 Milliarden Dollar (rund 86 bis 322 Mrd. Euro) betragen, so die „SZ“.

Die „Mängelliste“ Giegerichs für eine alleinige europäische Verteidigung ist lang und reicht von Langstreckenbombern und Kampfjets der jüngsten Generation bis zur Fähigkeit, mit modernen Lenkwaffen Präzisionsschläge auf große Entfernung zu führen. Lücken gibt es laut dem Experten auch bei den Seestreitkräften. Den europäischen Staaten wird etwa nicht zugetraut, einen U-Boot-Krieg zu führen, wie die „SZ“ schreibt.

GBU-12 Rakete
Reuters/Benoit Tessier
Ein Soldat inspiziert die lasergeführten Bomben GBU-12, die an einem französischen Rafale-Kampfjet angebracht sind

Kritik an Alleingängen der USA und der Türkei

Es gebe bei strategischen Entscheidungen keine Koordinierung zwischen den USA und anderen NATO-Partnern, sagte Macron kürzlich dem „Economist“ und forderte mehr europäische Eigenständigkeit. Neben Macrons Kritik sind die in der NATO nicht abgestimmten Alleingänge der USA und der Türkei in Syrien Auslöser für den Vorstoß. Die USA hatten sich aus Nordsyrien zurückgezogen und damit den Weg für eine türkische Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG frei gemacht, die bei fast allen anderen Bündnispartnern auf Kritik stieß.

Aus strategischer Sicht sei eine Verteidigung Europas durch die Atommächte Frankreich und Großbritannien möglich, so Giegerich weiter. Die Frage sei allerdings, ob Länder wie Polen, Estland, Lettland und Litauen auch das nötige Vertrauen in Paris hätten, so Giegerich in der „SZ“. Giegerich wies dabei auch auf die Stationierung von US-„Battlegroups“ in den vier Staaten nach der russischen Annexion der Krim hin. Das Kalkül sei Abschreckung. Russland solle damit klargemacht werden, dass es sich im Ernstfall mit den USA anlegen würde, so Giegerich weiter.

Deutschland hofft auf Reformen

Als Reaktion auf die scharfe Kritik Macrons startete der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) eine Initiative zur Stärkung der politischen Zusammenarbeit in dem Bündnis. Er sprach sich für die Einsetzung einer Expertenkommission aus, die Reformvorschläge erarbeiten soll. Die NATO müsse konzeptionell und politisch weiterentwickelt werden, sagte Maas. „Dazu brauchen wir politische Frischzellen – in einem Prozess, der zentrale transatlantische Fragen in den Blick nimmt.“ Die Staats- und Regierungschefs müssten sich dabei aber auch auf eine Grundsatzdebatte darüber einstellen, ob das Bündnis in seiner jetzigen Form noch zeitgemäß ist.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg begrüßte am Mittwoch bei dem Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel den Vorschlag. Bei dem Treffen soll der Gipfel Anfang Dezember vorbereitet werden. Der Vorschlag habe „Wert“, so Stoltenberg. Er ziele darauf, darüber nachzudenken, wie die NATO „als Plattform gestärkt werden kann, um den politischen Herausforderungen zusammen zu begegnen“, denen Nordamerika und Europa gegenüberstünden. Auch US-Außenminister Mike Pompeo zeigte sich grundsätzlich offen für Vorschläge zu Expertengruppen zur Zukunft der NATO.

Auch Frankreich schlug die Einrichtung einer Expertengruppe vor. Die französische Regierung wolle einen Reflexionsprozess über Werte, Ziele und Mittel der Allianz, sagte Außenminister Jean-Yves Le Drian vor seinen NATO-Kollegen in Brüssel am Mittwoch laut Redemanuskript. Er sprach sich für die Einsetzung einer „kleinen Gruppe herausragender Persönlichkeiten von außerhalb der NATO“ aus. Sie könne bis zum NATO-Gipfel Anfang 2021 „einen kurzen Bericht“ zur Zukunft des Bündnisses vorlegen.

Baltische Staaten arbeiten bereits an „Plan B“

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen arbeiten allerdings derzeit auch an einem „Plan B“ für den Fall, dass die NATO im Falle eines Angriffs Russlands nicht vereinbarungsgemäß einschreiten würde. Das sagte Estlands Innenminister Mart Helme in einem am Dienstag veröffentlichten finnischen Zeitungsinterview. Finnland sei dabei ein Teil der Überlegungen.

Auslöser für diese Initiative sei auch hier die „Hirntod“-Aussage Macrons gewesen. Helme stimme dem zwar nicht zu 100 Prozent zu, sicher sei allerdings, dass die NATO Probleme habe. „Wir wissen nicht genau, was die Amerikaner vorhaben. Mehrere unserer Minister waren kürzlich in den USA. Dort spricht man nur von China. Über Russland machen sich die wenigsten Gedanken. Es herrscht dort eine ‚China, China, China, Nahost, Nahost, Nahost‘-Atmosphäre“, so die Einschätzung Helmes, der Parteichef der rechten Estnischen Konservativen Volkspartei ist.

Skepsis gegenüber gemeinsamer EU-Verteidigung

Laut Helme machen auch die großen Partner Frankreich, Großbritannien und Deutschland Kopfzerbrechen. Man müsse genau beobachten, wie sich diese Länder nach dem Brexit, der Wachablöse an der Regierungsspitze in Deutschland beziehungsweise bei der Neuausrichtung seiner Verteidigungspolitik entwickeln würden.

Dass eine gemeinsame Verteidigung der EU jemals funktionieren könnte, glaubt der estnische Minister nicht. Für Estland und die beiden anderen baltischen Republiken sei Russland hingegen eine ewige Bedrohung. Angesichts der Krise in der NATO sehe man sich daher nun gezwungen, „mit gewissen anderen Staaten“ – außer Finnland nannte Helme keine Länder beim Namen – Möglichkeiten für separate Verteidigungsbündnisse auszuloten, falls die NATO im Ernstfall eines russischen Angriffs auf die bBaltischen Staaten ihren Artikel-5-Verpflichtungen nicht nachkommen könnte.

Neue Kooperationsprojekte in EU

Die EU-Staaten beschlossen derweil letzte Woche eine Ausweitung der ständigen militärischen Zusammenarbeit. Bei einem Treffen in Brüssel stimmten die Verteidigungsminister Mitte November 13 neuen Projekten im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ, englisch: PESCO) zu. Österreich wird etwa bei dem Projekt Abwehr chemischer, biologischer, radiologischer und nuklearer (CBRN) Bedrohungen federführend sein.

Abgesehen von Großbritannien, Malta und Dänemark sind bei der ständigen militärischen Zusammenarbeit alle EU-Staaten dabei. Dänemark beteiligt sich traditionell nicht an der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Malta führte zuletzt seine verfassungsmäßige Neutralität als Gegenargument an. Großbritannien wollte eigentlich bereits längst aus der EU ausgetreten sein.