Mann steht vor Zelten in einem Lager für Flüchtende
APA/AFP/Angelos Tzortzinis
„Abflugzentren“

Kurswechsel in Athens Flüchtlingspolitik

Erneut ist Griechenland in den Mittelpunkt der europäischen Migrationspolitik gerückt: Mehrere hundert Menschen setzen täglich von der Türkei aus über. Die Flüchtlingszentren der griechischen Inseln sind heillos überfüllt, die Lebensbedingungen katastrophal. Mit radikalen Schritten wie der Schließung der größten Lager auf den Inseln will die Regierung nun einen Ausweg aus der Dauerkrise finden.

Seit dem Sommer steigt die Zahl der in Griechenland ankommenden Geflüchteten. In diesem Jahr waren es nach Daten des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) bereits rund 60.000. Laut Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kommen durchschnittlich 200 bis 300 Menschen täglich von der Türkei auf die griechischen Inseln.

Die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis machte diese Woche weitreichende Schritte, um der „neu entstehenden Krise“, wie sie sagt, entgegenzuwirken. Die drei größten Flüchtlingslager auf den Inseln der Ostägäis werden schrittweise geschlossen. Auf Lesbos, Samos und Chios sollen stattdessen neue „Abflug- und Identifikationszentren“ geschaffen werden.

Geschlossene Lager für 5.000 Menschen

Die deutlich überfüllten Zentren sollten durch neue Einrichtungen mit Aufnahmekapazitäten von je mindestens 5.000 Menschen ersetzt werden – in Containerhäusern, mit fließendem Wasser, sanitären Anlagen und Strom. Bei den neuen Einrichtungen soll es sich um geschlossene Lager handeln, die die Asylsuchenden nicht verlassen dürfen. Das mache es leichter, eine unbemerkte Weiterreise auf das Festland zu verhindern.

Karte von Griechenland mit den Zentren für Flüchtende
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

In den neuen Zentren sollen jene untergebracht werden, die keine Aussicht auf Asyl haben und in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden sollen. Bis zu 18 Monate ist das laut griechischem Gesetz erlaubt. Die fünf neuen Einrichtungen sollen sich laut der Zeitung „Kathimerini“ auf den Inseln Samos, Chios, Lesbos, Kos und Leros befinden.

Personal wird aufgestockt

Alle weiteren Personen, die Aussicht auf Asyl haben, sollen aufs griechische Festland gebracht werden. Bis Jahresende sollen rund 20.000 die Inseln in diese Richtung verlassen. Zusätzlich will Athen die Rückführung in die Türkei und andere Herkunftsländer vorantreiben – bis Jahresende sollen 10.000 Menschen abgeschoben werden. Auch das Personal für die Bearbeitung von Asylanträgen soll um 500 Beamte aufgestockt werden. Zudem soll künftig ein staatlicher Verantwortlicher für die rund 5.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ernannt werden, die es derzeit in Griechenland gibt.

Derzeit sind auf Lesbos, Chios und Samos insgesamt mehr als 27.000 Menschen untergebracht. Allein das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos war in den vergangenen Jahren immer wieder in den Schlagzeilen. Mit einer Aufnahmekapazität von 3.000 Personen beherbergt Moria derzeit mehr als 15.000 Menschen. Hilfsorganisationen bemängeln die dort herrschenden katastrophalen Zustände seit Jahren, mehrmals kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in Moria.

Skepsis wegen geschlossener Zentren

Der griechische Ableger des UNHCR begrüßte die Maßnahmen im Großen und Ganzen. Probleme sieht die Organisation hingegen bei den geschlossenen Lagern, in denen die Menschen bis zur Ausreise festgehalten werden sollen. „Von jenen, die derzeit auf den Inseln ankommen, sind unseren Schätzungen nach rund 85 Prozent asylberechtigt“, hieß es vom UNHCR. Es handle sich dabei vornehmlich um Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Demokratischen Republik Kongo. Dass sie als Nichtasylberechtigte angesehen und deshalb dann eingesperrt würden, dürfe nur als allerletztes Mittel gelten.

Mädchen blickt von einer Anhöhunh aus auf das Flüchtlingslager von Chios
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
Ein Lager auf Chios: NGOs schlagen regelmäßig wegen der Zustände Alarm

Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) kritisierte die geplanten geschlossenen Lager. „Daraus werden über kurz oder lang Gefängnisse werden“, sagte der internationale Präsident der Organisation, Christos Christou, am Freitag in Athen. Auch die Maßnahme, Tausende Geflüchtete auf das griechische Festland zu bringen, werde die Lage nicht maßgeblich verbessern. „Dort gibt es ebenfalls keine ausreichenden, angemessenen Unterkünfte.“

EU-Türkei-Pakt

Die EU und die Türkei schlossen im März 2016 einen Flüchtlingsdeal. Die EU sagte darin zu, über drei Jahre zweimal drei Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei zu zahlen. Ankara sicherte im Gegenzug zu, mehr zu tun, um Menschen an der Überfahrt nach Griechenland zu hindern.

EU-Türkei-Pakt für MSF gescheitert

Anhand der griechischen Situation erklärte MSF auch den Pakt zwischen der EU und der Türkei für gescheitert. „Vier Jahre nach dem Flüchtlingspakt leben auf den griechischen Inseln 35.000 Menschen im völligen Chaos und ohne jegliche Würde“, so Christou. Die Situation dort sei vergleichbar mit den schlimmsten Camps weltweit. Die Zentren müssten sofort geschlossen und die Menschen aufs europäische Festland gebracht werden.

Mit Humanität, die sich die EU auf die Fahnen geschrieben habe, habe das nichts mehr zu tun, sagte Christou. Folteropfer, psychisch kranke Menschen und Kinder würden nicht ausreichend versorgt. Flüchtlinge lebten zum Teil bereits seit zwei Jahren unter Plastikplanen.

Kritik an EU und Türkei

Die griechische Regierung kritisierte auch die Haltung der Türkei, die laut Athen die EU „erpresst“. Die EU solle deshalb über einen Ausbau der Finanzhilfen für die Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei nachdenken, so der griechische Vizeminister für Migration, Giorgos Koumoutsakos. Wenn die Türkei die Forderung nach höheren Finanzhilfen aber mit „Erpressung“ und „Drohungen“ verknüpfe, werde dadurch nicht das erforderliche „politische Klima“ für neue EU-Mittel geschaffen.

Lage in Griechenland spitzt sich zu

2019 sind in Griechenland 60.000 Menschen angekommen, 8.000 wollen aktuell von Bosnien-Herzegowina nach Mittel- und Nordeuropa gelangen. Vier Millionen Geflüchtete befinden sich zurzeit in der Türkei.

Wenn die Regierung in Ankara immer wieder ankündige, die Tore öffnen zu wollen, habe das zur Folge, dass sich die Flüchtlinge auf die Öffnung der Tore einstellten, sagte Koumoutsakos gegenüber der AFP bei einem Besuch in Washington.

Hauptadressat für Kritik ist aber die EU: Premier Mitsotakis beklagte, dass Europa Griechenland als „bequemen Parkplatz für Flüchtlinge und Migranten“ betrachte. Er kritisierte die EU auch einmal mehr dafür, noch immer keine nachhaltige Lösung für die Verteilung von Flüchtlingen gefunden zu haben.

„Flexible Solidarität“

Dieser Vorwurf war auch Thema bei der Jahreskonferenz des Wiener Thinktanks International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) am Freitag. Dort sagte Koumoutsakos, das Problem sei kein bilaterales zwischen Griechenland und der Türkei. „Wir sollten die Migrationsthematik nicht zu einem Thema werden lassen, das die europäische Einheit gefährdet.“ Die griechische Regierung halte weiterhin daran fest, dass Solidarität und gemeinsame Verantwortung etwa beim Außengrenzschutz die Hauptpunkte einer künftigen gemeinsamen EU-Migrationspolitik sein sollen und müssen, betonte Koumoutsakos.

Innenminister Wolfgang Peschorn plädierte in seinem Statement für eine „neue, flexible Form von Solidarität“ mit den Ländern an den Außengrenzen der EU. Er sprach sich für einen schrittweisen Prozess hin zu einem „gemeinsamen System“ aus, um den momentanen Stillstand in der EU-Migrationspolitik zu lösen.