Pressekonferenz von Jeremy Corbyn
APA/AFP/Tolga Akmen
Gesundheitssystem in GB

Corbyn wirft Johnson „Verkauf“ vor

Knapp zwei Wochen vor der Parlamentswahl in Großbritannien werden die politischen Bandagen härter. Die oppositionelle Labour bekräftigte am Mittwoch Vorwürfe, die konservative Regierung wolle das staatliche Gesundheitssystem praktisch an die USA verscherbeln. Corbyn hielt dafür medienwirksam ein Bündel geschwärzte Akten in die Kameras. Johnsons Torys sprechen von einem Ablenkungsmanöver.

Labour-Chef Jeremy Corbyn präsentierte ein mehr als 450 Seiten starkes Dokument, das belegen soll, dass die Gesundheitsversorgung, das National Health Service (NHS), Gegenstand von Verhandlungen mit den USA über ein Handelsabkommen nach dem Brexit sei. Dieses stehe „zum Verkauf“, zitierten ihn britische Medien wie etwa der „Guardian“.

Der Verkauf des NHS stehe auf der „Geheimagenda“ der Regierung in London, sagte Corbyn unter Verweis auf das Dokument. Die USA strebten einen „giftigen Deal“ mit Großbritannien nach dessen Austritt aus der EU an. Die anstehende Parlamentswahl sei deshalb ein „Kampf um das Überleben des NHS als öffentliche Dienstleistung“. Ansonsten drohe eine „unkontrollierte Privatisierung“ des Gesundheitswesens in Großbritannien.

„Lasst uns ehrlich sein“

Die Zukunft der Gesundheitsversorgung ist ein wesentliches Thema vor der Wahl am 12. Dezember. Corbyn hatte im Wahlkampf bereits eine redigierte Fassung des Dokuments zum Stand der Verhandlungen mit den USA vorgelegt, die Johnson als „absolute Erfindung“ zurückwies. Nun legte der Labour-Chef die unredigierte Fassung vor, die sechs Treffen zwischen Vertretern beider Länder seit 2017 aufführt. Die Konservativen sprechen von simplen Arbeitspapieren, die noch dazu seit Wochen bekannt seien.

Pressekonferenz von Jeremy Corbyn
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Corbyn: „Aufgedeckt: Die Wahrheit über unser NHS“

Corbyn blieb aber dabei: Große US-Pharmakonzerne sähen die Chance, „mit Krankheiten und Leiden der Menschen in diesem Land Milliarden zu verdienen“. Generikamedikamente könnten teurer werden. „Lasst uns ehrlich sein“, die USA würden nicht darüber verhandeln, „ihre eigenen Medikamente billiger zu verkaufen“.

Oberrabbiner erhob Vorwürfe

Die Gespräche zwischen Regierungschef Johnson und US-Präsident Donald Trump über ein Handelsabkommen für die Zeit nach dem EU-Austritt Großbritanniens seien bereits in einem „fortgeschrittenen Stadium“, sagte Corbyn. Labour werde bei dem Thema „keine Ruhe“ geben, weil die Partei anders als die Konservativen von Johnson „nicht auf der Seite der Milliardäre und Banker“ stehe. Das Gesundheitssystem NHS wurde 1948 von einer Labour-Regierung geschaffen. Die Partei ist unter anderem deshalb ein hartnäckiger Verfechter des Systems, dem das Versprechen einer kostenlosen Gesundheitsversorgung „von der Wiege bis zum Grab“ zugrunde liegt.

Die Torys beschuldigten die Labour, mit ihren Vorwürfen von einem Antisemitismusproblem in ihren eigenen Reihen bzw. einer medialen Auseinandersetzung damit ablenken zu wollen. Corbyn musste sich für seine Weigerung, sich dafür im Lauf eines Interviews mit der BBC offiziell zu entschuldigen, Kritik einstecken. Er verurteilte lediglich Rassismus generell als „Gift“ für die Gesellschaft. „Ich möchte nicht, dass sich irgendjemand in unserer Gesellschaft unsicher fühlt, und unsere Regierung wird jede Gemeinschaft schützen“, sagte er.

Der Hintergrund: Großbritanniens Oberrabbiner Ephraim Mirvis hatte der Labour vorgeworfen, nicht entschlossen gegen Antisemitismus in den eigenen Reihen vorzugehen. „Ein neues Gift – genehmigt von der Spitze – hat in der Labour Party Fuß gefasst“, schrieb Mirvis in einem Beitrag für die „Times“ am Dienstag. Er warf die Frage auf, ob Corbyn für ein hohes Amt geeignet sei. Mirvis bat jeden Wähler, bei der Wahl am 12. Dezember „mit seinem Gewissen abzustimmen“.

Seit Corbyns Wahl zum Labour-Chef 2015 wurden immer wieder Antisemitismusvorwürfe gegen ihn und seine Partei laut. Im Jahr 2018 räumte Corbyn ein, dass Disziplinarverfahren gegen antisemitische Parteimitglieder zu langsam und zaghaft betrieben worden seien. Seit 2017 verließen laut „The Times“ 13 Abgeordnete die Labour-Partei, unter anderem aus Kritik am Umgang mit antisemitischen Tendenzen.

Corbyns „Horrorshow“

Nachdem Corbyn es vermied, sich direkt zu entschuldigen, kritisierten mehrere britische Zeitungen seine Haltung und sprachen unter anderem von einer „Horrorshow“ und einem „desaströsen Tag“ für Corbyn. Richard Burgon von der Labour-Partei sagte hingegen der BBC am Mittwoch, dass sich Corbyn bereits früher mehrmals „bei verschiedenen Gelegenheiten“ bei Juden in Großbritannien entschuldigt habe. „Natürlich tut uns der Schmerz leid, der verursacht worden ist.“

Kritiker werfen dem 70-jährigen Corbyn auch eine einseitige Unterstützung der Palästinenser im Nahost-Konflikt vor. Noch bevor er Labour-Chef wurde, bezeichnete er laut britischen Medien die im Gazastreifen herrschende Hamas, die unter anderem von der EU als Terrororganisation eingestuft wird, als „Freunde“. Später entschuldigte er sich dafür.

„NHS wird nie zu verkaufen sein“

Das Thema NHS war auch schon in einer TV-Debatte zwischen Corbyn und Regierungschef Johnson hochgekocht. Dort sagte der Labour-Chef: „Vollen Zugang für US-Produkte zu unserem nationalen Gesundheitssystem.“ Johnson wolle das NHS an die USA und „big pharma“, die großen Pharmakonzerne, „verkaufen“. Der konservative Regierungschef sprach von einer blanken „Erfindung“, die Vorwürfe seien „völlig unwahr“. Nie und unter keinen Umständen würde diese oder jede andere Regierung das Gesundheitssystem in Handelsgesprächen zur Disposition stellen. „Unser NHS wird nie zu verkaufen sein.“