Szene aus „Orlando“
Staatsoper/Michael Poehn
Neuwirths „Orlando“

Staatsoper verlässt die „Komfortzone“

Wenn sich am Sonntag der Vorhang für „Orlando“ hebt, wird eine Uraufführung der besonderen Art über die Bühne gehen. Mit dem Auftragswerk von Olga Neuwirth zeigt das Haus zum ersten Mal in der Geschichte eine abendfüllende, von einer Frau komponierte Oper. Die Produktion verspricht auch auf vielen anderen Ebenen außergewöhnlich zu werden – schließlich zwingt Neuwirth das Haus „aus der Komfortzone“.

Uraufführungen an sich hatten in der Staatsoper lange Seltenheitswert. Zum Ende seiner Amtszeit hat Dominique Meyer nun gleich drei im Programm – nach „Die Weiden“ (Ende 2018) nun „Orlando“ und ab 21. Dezember die Kinderoper „Persinette“ von Albin Fries. Der Grund für die lange Zurückhaltung sei, so Meyer in einem früheren Interview, ein ganz pragmatischer: „Man kann nicht auf Knopfdruck Uraufführungen vorlegen.“ Sein Traum sei es gewesen, in jeder Spielzeit eine Uraufführung zu haben – „aber so einfach funktioniert das Leben nicht“.

Bevor Meyer nun an die Mailänder Scala wechselt, wo er Alexander Pereira nachfolgt, sind in dieser Saison mehr Frauen denn je in den Leading Teams vertreten: mehrfach als Regisseurinnen, vereinzelt, aber doch am Pult und mit Neuwirth nun erstmals auch in der Liste der Komponisten. „Die ehrwürdige Institution der Staatsoper hat zwei Seiten: Das eine ist eine Geschichte des wunderbaren Musikmachens, das andere ist eine Geschichte der Erstarrung“, kommentierte die in Graz geborene und in Berlin lebende Neuwirth in einem Pressegespräch vor der Premiere die späte Öffnung des Spielplans.

Erster Anlauf mit Jelinek-Libretto kam nie zur Uraufführung

Ein erster Anlauf für ein an der Staatsoper, den Salzburger Festspielen und der Pariser Oper geplantes Projekt vor 15 Jahren war geplatzt: „Der Fall Hans W.“ von Neuwirth wurde von den Auftraggebern wegen Unzufriedenheit mit dem Libretto Elfriede Jelineks abgesagt. „Es ist der zweite Start mit der Staatsoper, 2013 habe ich den Auftrag bekommen. Nachdem ich durch den ersten gescheiterten Anlauf meine Librettistin verloren hatte, habe ich mich nun für jenes Werk entschieden, das ich als 15-Jährige in einem kleinen Kaff an der slowenischen Grenze gelesen habe und mich schon damals sehr beeindruckt hat“, sagt Neuwirth: „Als es zu einem zweiten Anlauf kam, war für mich also klar, dass es dieses Sujet wird.“

Szene aus „Orlando“
Staatsoper/Michael Poehn
Mit sechs riesigen, beweglichen Videopaneelen soll Neuwirths Musik den „Raum zum Atmen“ bekommen, den sie sich wünscht

Ein Mensch, „der sich in keine Normen pressen lässt“

Für das Libretto des zweiten Anlaufs zeichnet Neuwirth gemeinsam mit der französisch-amerikanischen Dramatikerin Catherine Filloux verantwortlich. Es basiert auf dem 1928 erschienenen Roman „Orlando: A Biography“ von Virgina Woolf. Der Protagonist, ein nicht alternder englischer Adeliger, der sich unter nicht näher erläuterten Umständen in eine Frau verwandelt, ist für Neuwirth „ein Mensch, der sich in keine Normen pressen lässt“.

„Orlando ist ein Wesen, das alle oktroyierten Normen infrage stellt oder nicht anerkennt, mit den Normen umgeht, aber sie verändert und neu denkt. Sie lässt sich in keine eindeutigen binären Systeme einzwängen, sie wird aus sich heraus ein Wesen, das selbstbestimmt ist – ein Freigeist mit sprudelnder und überbordender Freiheit, was die Voraussetzung für Demokratie ist. Es geht um die freie Meinungsäußerung des Menschen und um Fluid Identity. Es gibt keine festen Normen, weder in der Kunst noch im Leben.“

Olga Neuwirths Zeitreise „Orlando“

Komponistin Olga Neuwirth nahm Virginia Woolfs „Orlando – eine Biografie“ als Vorlage für ihre Oper. „KulturMontag“ war bei den Proben und traf Neuwirth zum Interview.

Vier Jahrhunderte Musikgeschichte

Der Roman Wolfs beginnt im London des 16. Jahrhunderts und begleitet Orlando bis in die 1920er Jahre. Auch Neuwirths Komposition setzt sich dem folgend mit vier Jahrhunderten Musikgeschichte auseinander: „Es gibt viele Anspielungen und verzerrte echte und unechte Zitate, die sich auf der Ebene der Musik abspielen. Man wird viele erkennen und viele nicht erkennen.“

„Das Stück verlangt von seinem Konzept her, dass alle Beteiligten über ihren Schatten springen, denn das ist das Thema von ‚Orlando‘. Alle Abteilungen müssen aus ihrer Komfortzone raus – das fällt manchen schwerer und manchen leichter“, sagt die Komponistin. „Eine kleine Anekdote zeigt, was ich meine: Jemand kam auf mich zu und sagte: ‚Frau Neuwirth, Sie wissen, erstmals müssen hier alle Departements miteinander kommunizieren. Das ist eine Art von Psychoanalyse.‘ Das freut mich – denn dann hätte ich etwas erreicht.“

Szene aus „Orlando“
Staatsoper/Michael Poehn
Die Kostüme von Comme-des-Garcons-Gründerin Rei Kawakubo gleichen Avantgarde-Skulpturen

Der dritte Akt eines Gesamtkunstwerks

Die Form des Werkes sei ihr sofort klar gewesen, so Neuwirth im Programmheftbeitrag „Orlando, eine fiktive musikalische Biographie“. Ihr Ziel sei es, eine „hybride ‚Grand opera‘ als eine Fusion aus Musik, Mode, Literatur, Raum und Videos“ zu schaffen – „um dieses altehrwürdige Opernhaus mit unterschiedlichen Menschen aus unterschiedlichen Genres ein wenig aufzuschütteln“.

Hinweis

„Orlando“ wird am 8. Dezember in der Wiener Staatsoper uraufgeführt. Weitere Vorstellungen stehen am 11., 14., 18. und 20. Dezember jeweils um 19.00 Uhr auf dem Spielplan.

Ö1 überträgt die Uraufführung am 8. Dezember ab 19.00 Uhr live – mehr dazu in oe1.ORF.at.

In der Regie der Britin Polly Graham soll „Orlando“ laut Neuwirth auch in der szenischen Umsetzung „keine übliche Oper“ werden – „ich nenne es ‚opera performance‘“. Optisch soll neben Videokunst von Will Duke und dem Bühnenbild Roy Spahns für das „Aufschütteln“ gesorgt werden: Die legendäre Modeschöpferin Rei Kawakubo, Gründerin des Modelabels Comme des Garcons, entwarf die Kostüme.

Die Uraufführung selbst sei der dritte Akt des von „Orlando“ inspirierten Projekts „transformation and liberation“, ließ die Japanerin vorab wissen. Den ersten und zweiten Akt stellten die Präsentationen der Comme-des-Garcons-Kollektionen im Juni und September in Paris dar. Wie Neuwirth verwischt Kawakubo die Grenzen zwischen den Genres – in ihrem Fall zwischen Mode und Kunst.

Das inhaltliche Leitmotiv der Abkehr von den Normen wird für „Orlando“ also sowohl in der Musik als auch in den Bildern der Aufführung spürbar werden – eine umfassende Herausforderung des Staatsopernpublikums, die laut Neuwirth aber keine Überforderung werden soll: „Ich mache ein Angebot.“