SPD-Spitzen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans
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Neue SPD-Spitze

Linksruck als Belastungsprobe für Koalition

Nach der überraschenden Wahl des neuen SPD-Führungsduos Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bahnen sich spannende Wochen für die Große Koalition in Deutschland an. Die neue SPD-Spitze will den Koalitionsvertrag mit der Union in wichtigen Punkten neu aushandeln, um Maßnahmen für den Klimaschutz, ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und staatliche Investitionen in Straßen, Schulen und Bahn neu zu finanzieren. Gewarnt wird vor einem Bruch der Koalition – und das nicht nur von der Union.

Das Duo Esken/Walter-Borjans hatte sich im SPD-Mitgliederentscheid mit gut 53 Prozent gegen Finanzminister Olaf Scholz und Klara Geywitz durchgesetzt. Das Ergebnis wurde als Linksruck in der Partei gewertet – und als Belastungsprobe für die Koalition mit der Union.

Denn die beiden fordern ein Abrücken von der „schwarzen Null“ im Budget und wollen stattdessen für „massive“ Infrastrukturausgaben, Maßnahmen gegen den Klimawandel und auch Sozialmaßnahmen neue Schulden in Kauf nehmen. Dafür wäre es nötig, den Koalitionsvertrag anzupassen. Dass bei maroden Straßen, Schulen und auch bei der Bahn großer Investitionsbedarf besteht, ist in Deutschland unbestritten. Uneinigkeit herrscht aber darüber, ob dafür das Ziel des Nulldefizits geopfert werden soll – auch in der SPD.

Wahlschlappen und Unmut über bisherigen SPD-Kurs

Der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans und die Bundestagsabgeordnete Esken gelten auch insofern als Überraschung, als beide bundesweit nicht sonderlich bekannt waren. In ihrer Wahl drückt sich aber vor allem der Unmut der SPD-Basis über den Kurs der Partei aus. Rund ein halbes Jahr hat die SPD eine neue Führung gesucht. Im Sommer war die bisherige Parteichefin Andrea Nahles nach Machtkämpfen zurückgetreten.

Neue SPD-Führung: Wohin steuert Deutschland?

In Deutschland steht die Zukunft der Großen Koalition auf dem Spiel. Die Mehrheit der SPD-Mitglieder hat sich für das koalitionskritische Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken entschieden.

Der Großen Koalition wird in Deutschland Stillstand vorgeworfen, in keinem Politikfeld gebe es große Würfe. Und das befeuere auch den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD, heißt es in Kommentaren immer wieder. An der SPD wiederum wurde kritisiert, in der Koalition kein Profil zu zeigen und bei ihren Forderungen immer wieder umzufallen. Zudem ereilte die Sozialdemokraten eine Wahlschlappe nach der nächsten.

Kritik an Schwenk nach links

Mit der neuen Spitze versucht man jetzt einen Schwenk nach links, der auch ein Ende der Großen Koalition bedeuten könnte. In den meisten Medien wird das eher kritisch gesehen. In Talkshows wie „Markus Lanz“ vergangene Woche und „Anne Will“ am Sonntag musste sich das Führungsduo sehr kritischen Fragen stellen.

Er halte die Große Koalition auf Dauer nicht für die richtige Kombination, sagte Walter-Borjans am Sonntagabend in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. „Aber wir sind drin, und wir müssen auf dieser Grundlage jetzt sagen, was zu tun ist. Und wenn dann eine Blockadehaltung des Koalitionspartners da ist für diese neuen Aufgaben, dann muss man die Entscheidung treffen, dass es nicht weitergeht.“

Unruhe in der Union

Solche und ähnliche Aussagen riefen freilich schon am Wochenende die Union auf den Plan: Wir stehen zu dieser Koalition auf der Grundlage, die verhandelt ist", sagte Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. „Das ist für die CDU die Geschäftsgrundlage.“ Die stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Julia Klöckner und Thomas Strobl schlossen eine Überarbeitung des Koalitionsvertrags aus. CSU-Chef Markus Söder nannte es selbstverständlich, dass man miteinander rede. Aber: „Bloß weil ein Parteivorsitzender wechselt, verhandelt man keinen Koalitionsvertrag neu“, sagte er im ZDF-„Heute Journal“. Schon gar nicht würden Forderungen diskutiert, „die rein ideologisch motiviert sind und die dazu dienen, einen Wahlkampf abzufedern“.

Merkel offen für Gespräche

Am Montag klang Kramp-Karrenbauer deutlich versöhnlicher: Sie ließ ebenfalls die Möglichkeit von Nachverhandlungen des Koalitionsvertrags in Einzelpunkten offen, indem sie nur eine vollständige Revision ausschloss. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich offen für Gespräche mit der künftigen SPD-Spitze, lehnte aber ein Neuverhandeln des Koalitionsvertrags ab. Die Kanzlerin sei grundsätzlich zur Zusammenarbeit und zum Gespräch bereit, „wie es in einer Koalition üblich ist“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Und wenn Einigkeit innerhalb der Koalition über etwas hergestellt werden könne, „dann können auch neue Vorhaben in Angriff genommen werden“. Zugleich betonte Seibert: „Eine Neuverhandlung des Koalitionsvertrags steht nicht an.“

Widerstand auch innerhalb der SPD

Zugleich regte sich am Montag auch innerhalb der SPD Widerstand gegen die Forderung der künftigen Parteiführung nach einer Neuverhandlung des Koalitionsvertrags. „Die Forderung nach Nachverhandlungen des Koalitionsvertrags halte ich für ebenso unnötig wie gefährlich“, erklärte der Vorsitzende der baden-württembergischen SPD-Landesgruppe im Bundestag, Martin Rosemann. Der Staatsminister im Außenministerium, Michael Roth (SPD), warf Esken und Walter-Borjans vor, sie knüpften die Fortsetzung der Großen Koalition an unerfüllbare Forderungen. Auf Tauchstation ging Finanzminister Scholz nach seiner Niederlage. Es wurde allerdings damit gerechnet, dass er in der Regierung bleibt – alles andere wäre ein Signal der Spaltung, das die polarisierte Partei am allerwenigsten brauchen kann.

Schnelle Entscheidungen

Zunächst wird es auch Sache der SPD sein, sich auf einen Kurs zu einigen: Schon bis zum Parteitag Ende der Woche in Berlin wollen Esken und Walter-Borjans mit der Parteiführung festlegen, zu welchen Bedingungen die SPD dem Bündnis treu bleiben will. Esken hatte am Samstag in der ARD betont, sie planten „keinen Alleingang“, sondern einen gemeinsamen Kurs mit der Bundestagsfraktion und den SPD-Ministern.

An diesem Dienstag trifft sich das erweiterte Präsidium. Beraten werde ein Antrag, in dem nicht nur die Halbzeitbilanz der Koalition bewertet werden soll, sondern auch neue Aufgaben für eine Fortsetzung der Regierung beschrieben werden. Angesichts der neuen Konstellation wird davon ausgegangen, dass es schnell nach dem dreitägigen SPD-Parteitag einen Koalitionsausschuss geben wird.

Neuwahlgespenst geht um

Im Raum steht jedenfalls auch das Neuwahlgespenst – mit denkbar ungüstigen Ausgangspositionen für die beiden Großparteien: Die Umfragewerte sind angesichts der Höhenflüge von AfD und Grünen im Keller, bei der Union steht zudem die Entscheidung an, wen man als Kanzlerkandidat ins Rennen schickt. Kramp-Karrenbauer als Parteichefin ist keineswegs unumstritten. Ohne Neuwahl wäre bei Zerbrechen der Regierung ein fliegender Übergang zu einer „Jamaika“-Koalition von Union, Grünen und FDP denkbar – oder eine Minderheitsregierung der Union.

Kommt es zur Neuwahl, könnte eine neu ausgerichtete SPD in Richtung einer rot-rot-grünen Koalition schielen, also eine Zusammenarbeit mit den Grünen und der Linken – vorausgesetzt natürlich, ein solches Bündnis hätte eine entsprechende Mehrheit.