Spezialisten und Spezialistinnen übernehmen heute das gesamte Krisenmanagement nach einer Entführung, von der Betreuung der Angehörigen bis zu den Verhandlungen mit den Entführern, von der Einschätzung der richtigen Lösegeldhöhe bis zur Kooperation mit der Polizei, wie es auf der Wissenschaftswebsite The Conversation heißt. Die Entführungsexperten bewegen sich dabei teils in einer Grauzone.
Verschiedene Länder verfolgten unterschiedliche Ansätze im Umgang mit der Entführung ihrer Staatsangehörigen, so der britische „Guardian“. Großbritannien ist zusammen mit den USA seit Langem ein Vertreter des „No Concessions“-Lagers, das sich offiziell weigert, mit Terroristen zu verhandeln, Lösegeld zu zahlen oder andere Zugeständnisse zu machen. Es wird befürchtet, dass das Bezahlen von Lösegeld das Risiko künftiger Entführungen erhöht. Außerdem gelange damit auch Geld in die Hände terroristischer Organisationen, mit denen die laufenden Operationen finanziert werden könnten, so die Begründung.
Auf der Suche nach neuen Kunden im Drogenkrieg
Angefangen hat das große Geschäft mit den Entführungsversicherungen 1982, wie der „Guardian“ schreibt. Der britische Versicherungsmakler Doug Milne war auf der Suche nach neuen Kunden, im Idealfall hoffte er auch auf ein neues Geschäftsfeld.
Milne machte sich mit wenig Spanischkenntnissen und nur zwei Ansprechpartnern in die kolumbianische Hauptstadt Bogota auf und wurde Augenzeuge des beginnenden äußerst blutigen Drogenkriegs zwischen den Kartellen untereinander sowie mit der kolumbianischen Polizei bzw. auch der Armee. Entführungen waren in der teilweise fast kriegerisch geführten Auseinandersetzung mehr oder weniger an der Tagesordnung.
Erste Ideen nach Lindbergh-Entführung
Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt bereits Versicherungen gegen Entführungen, doch waren sie so gut wie unbekannt. Die erste Entführungs- und Lösegeldversicherungspolizze wurden 1932 ausgestellt, wie die „New York Review of Books“ schreibt. Sie wurde in der Folge der aufsehenerregenden und die Weltpresse monatelang in Atem haltenden Lindbergh-Entführung „erfunden“.
Der Pilot Charles Lindbergh hatte mit dem ersten Nonstopflug von den USA über den Atlantik nach Frankreich Weltbekanntheit erlangt. Der in den USA als Nationalheld gefeierte Lindbergh wurde in den 1940er Jahren ob seiner politischen Ansichten und Reden als Sympathisant der Nationalsozialisten und als Antisemit kritisiert, doch bereits zuvor erhielt sein Leben eine tragische Wendung. Sein zweijähriger Sohn wurde am 1. März 1932 entführt, Lösegeld wurde bezahlt. Am 12. Mai wurde das Kleinkind schließlich tot entdeckt.
Entführungswelle ab den 1960ern
Ein richtiger Verkaufserfolg wurden die neuen Entführungsversicherungen allerdings nicht. Erst in den 1960er Jahren nach einer Reihe aufsehenerregender Kidnappings von Geschäftsleuten und ihren Familien in Europa und Lateinamerika begannen Unternehmen derartige Versicherungen für hochrangige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bzw. auch deren Angehörige abzuschließen. Vor allem Terrororganisationen wie etwa die spanische ETA, die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland und die Roten Brigaden in Italien waren neben der Mafia in Europa für die Entführungen verantwortlich.
Geheimklausel sollte Risiko minimieren
Diese Art von Entführungsversicherungen hatten einen großen Mangel, wie die „New York Review of Books“ schreibt. Vonseiten der Versicherer war in den Verhandlungsprozess niemand eingebunden. Die Versicherungen hatten somit damals eigentlich nur eine Aufgabe: das Lösegeld zurückzuerstatten.
Von den Versicherungskonzernen gab es allerdings mehrere Auflagen. So musste die Polizze geheim gehalten werden, um nicht das Risiko des Gekidnapptwerdens zu erhöhen. Befürchtet wurde auch, dass die Entführer, sollten sie um die Polizze wissen, mehr Lösegeld fordern würden, so der „Guardian“.
Verwandte mussten noch selbst verhandeln
Sollten Entführungen lukrativer werden, wurde auch befürchtet, dass die Zahl der Kidnappings ansteigt. Auch sollte damit vermieden werden, dass bereits einmal Entführte ob der hohen Lösegeldsumme ein weiteres Mal entführt würden. Ein weiteres Prinzip der Versicherungen: Lösegeld wird nicht vorgestreckt.
Die Nachteile für die Versicherten: Deren Verwandte bzw. die Angestellten der Unternehmen, in denen sie tätig waren, mussten in Zusammenarbeit mit der Polizei die Verhandlungen mit den Kidnappern bis hin zur Lösegeldübergabe verhandeln – und waren damit meist überfordert.
Professionalisierungsschub mit Vollservice
Eine Lösung dafür bahnte sich schließlich in den 70er Jahren an. Ein junger Versicherungsmakler, Julian Radcliff, hatte laut „New York Review of Books“ die zündende Idee: Eine auf Entführungsfälle spezialisierte Sicherheitsfirma musste her. Zuerst als Abteilung bei Lloyds, später als eigene Firma stellten Spezialisten von Control Risks das nötige Know-how zur Verfügung, um Entführungsfälle so gut wie möglich für die Opfer abzuwickeln. Die Experten rekrutierte man vor allem aus den Reihen von Militär und Polizei und setzte auf deren bisherige Erfahrungen.
Auch potenzielle Opfer werden überprüft
Und auch bei der Annahme der Kunden und Kundinnen griffen Änderungen. So wurden potenzielle Entführungsopfer geheim mit Einverständnis der künftigen Polizzenhalter gründlich überprüft und Vorschläge für Sicherheitsmaßnahmen gemacht. Wurden diese umgesetzt, etwa Sicherheitspersonal angestellt, die Häuser besser abgesichert und Ähnliches lockte die Versicherung mit Rabatten bei den Prämien.
Auch die Abwicklung im Entführungsfall wurde erneuert. Die Spezialisten berieten nun die Familien bzw. Arbeitgeber der Entführungsopfer. Denn diese mussten weiterhin mit den Kidnappern kommunizieren, sonst hätten die Entführer von der Versicherung Wind bekommen und ihre Forderungen raufschrauben können. War das Lösegeld fixiert, wurde es von den Profis übergeben und die Geisel im Idealfall gesund wieder übergeben.
Kurse für das richtige Verhalten als Neuerung
Konkurrenz erwuchs Control Risks schließlich aus den USA. Ein ehemaliger CIA-Agent, Mike Ackerman, startete sein eigenes Unternehmen – im Unterschied zu Control Risks, das ein größeres Personal hatte, machte er so gut wie alles selbst, wie die „New York Review of Books“ schreibt. Er verhandelte auch als vermeintlicher Familienangehöriger oder Boss des Opfers mit den Entführern und übergab das Lösegeld.
Milne schließlich, der Anfang der 1980er Jahre von Kolumbien aus sein Geschäft mit den Entführungspolizzen über ganz Lateinamerika ausweitete, ging nach London und baute mit seinem Know-how und zahlreichen Mitarbeitern mit Berufserfahrung bei Polizei und Militär auch einen Zweig in Europa auf. Seine Innovation: Er bot Kurse an, die das Risiko einer Entführung minimieren sollten bzw. auch lehrten, wie sich ein Opfer im Fall der Fälle gegenüber seinen Kidnappern richtig verhält.
75 Prozent der Fortune-500-Unternehmen versichert
Schließlich schaffte er es, dass die Versicherungen auch die Kosten für seine Kurse übernahmen, denn potenzielle Opfer wie auch die Versicherungen haben ein Interesse, die Wahrscheinlichkeit einer Entführung zu minimieren, wie der „Guardian“ schreibt. Laut der Zeitung haben 75 Prozent der Fortune-500-Unternehmen eine derartige Versicherung für gefährdete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Zwei Versicherer, Hiscox in Großbritannien und AIG in den USA, geben in der Branche derzeit den Ton an, heißt es weiter. Doch auch zahlreiche Sicherheitsfirmen haben sich auf Entführungsfälle spezialisiert.
Laut dem „Guardian“ ist Geiselverhandlung bereits so etwas wie eine Industrie geworden – Konferenzen, Kongresse und gemeinsame Strategien sowie Lobbyismus bei staatlichen Regelungen inklusive. Wichtig ist vor allem die Verschwiegenheit. Damit sollen die Lösegeldsummen so niedrig und das Geschäft für die Kriminellen so wenig lukrativ wie möglich werden, wie die „Washington Post“ schreibt. Als „Hotspots“ für Kidnappings gelten laut der Zeitung Nigeria, Mexiko, der Irak, Mali und Kolumbien.
Gute Überlebenschancen
Laut der Zeitung kann sich auch der Erfolg der Branche sehen lassen. 97 Prozent der Entführungen, in die professionelle Verhandler eingeschaltet sind, würden durch die Zahlung von Lösegeld erfolgreich gelöst. Einem kleinen Prozentsatz der Opfer gelinge die Flucht, nur wenige müssten in aufwendigen, hoch riskanten Operationen aus den Händen ihrer Entführer gerettet werden.
Weniger als ein Prozent der Opfer werde getötet, so der „Guardian“ unter Berufung auf Branchenzahlen. Nichtversicherte würden Geiselverhandler bis zu 2.000 Dollar pro Tag kosten, so die „New York Review of Books“. Die Umsätze der Branche schätzt das Magazin auf rund 250 bis 300 Millionen pro Jahr.