Syrische Kinder in einem Camp nahe der türkischen Grenze
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Flüchtlinge

Erdogan-Warnung erhöht Druck auf Athen

Die Warnung der Türkei vor einer neuerlichen Flüchtlingswelle in Richtung Europa hat am Montag für Wirbel gesorgt. Vor allem Griechenland fühlte sich von einer angedrohten Grenzöffnung unter Druck gesetzt. Hilfsorganisationen, aber auch die Regierung in Athen klagten zuletzt über verheerende Zustände in den Aufnahmelagern.

Die Türkei sollte aus Sicht der griechischen Regierung den Flüchtlingspakt mit der EU einhalten und Migration nicht instrumentalisieren, um Druck auszuüben, hieß es am Montag aus griechischen Regierungskreisen.

Griechenland, das habe der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis wiederholt gesagt, sei offen dafür, dass die Türkei mehr Unterstützung fordere, um Flüchtlinge unterzubringen, anstatt sie nach Europa zu lassen. Zusätzliche finanzielle Unterstützung müsse jedoch durch Beratungen mit der EU und nicht durch Drohungen erzielt werden, hieß es.

Flüchtlinge in einem Camp auf Samos
Reuters/Elias Marcou
Viele Flüchtlingslager in Griechenland sind hoffnungslos überfüllt

Erdogan: Können Zustrom nicht alleine schultern

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Sonntag, dass mehr als 80.000 Menschen durch die Bombardements aus der syrischen Provinz Idlib vertrieben wurden und auf dem Weg in die Türkei seien. Sein Land werde diesen Zustrom „nicht alleine schultern können“, und „alle europäischen Länder, insbesondere Griechenland, werden die negativen Folgen zu spüren bekommen“, sagte Erdogan.

Die türkische Hilfsorganisation IHH teilte am Montag mit, dass die Zahl der syrischen Flüchtlinge aus der Region Idlib auf dem Weg in die Türkei auf 120.000 angewachsen ist. Derzeit liefen die Vorbereitungen für ein Zeltlager in der Nähe der Ortschaft Killi, die 13 Kilometer vor der türkischen Grenze liegt, sagte ein IHH-Sprecher. Insgesamt befanden sich laut UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) Ende 2018 rund 138.000 Menschen in Griechenland, in der Türkei waren es rund vier Millionen.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres rief mit Blick auf Flüchtlinge zum sofortigen Stopp der Kämpfe in der syrischen Rebellenprovinz Idlib auf. „Der Generalsekretär erinnert alle Parteien an die Pflicht, Zivilisten zu schützen“, erklärte UNO-Sprecher Stephane Dujarric am Dienstag.

Eine Toilette für 300 Personen

Dabei wird in Griechenland schon längst Alarm geschlagen. Erst vergangene Woche hatte die Hilfsorganisation Human Rights Watch (HRW) an die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union appelliert, die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen umgehend von den Inseln zu holen. Allein auf Lesbos seien Hunderte Kinder unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt und erhielten keine Plätze in den überfüllten Räumlichkeiten für unbegleitete Minderjährige.

Kind schläft auf Müllsack auf Lesbos
APA/AFP/Aris Messinis
Dramatisch ist die Situation vor allem für Tausende Kinder, die auf den griechischen Inseln ohne ihre Eltern ausharren

Auch der Präsident von Ärzte ohne Grenzen (MSF), Christos Christou, forderte Ende November schnelles Handeln: So teilten sich etwa auf Samos je 300 Personen eine Toilette, die Zustände seien katastrophal. Schon bei Kindern gebe es Selbstmordversuche und psychische Probleme, sagte Christou.

Laut UNHCR leben in ganz Griechenland rund 4.000 unbegleitete Minderjährige. Auf den Inseln Samos, Lesbos, Chios, Leros und Kos sollen es rund 1.800 sein. Gut 40 Prozent aller ankommenden Migranten sind Kinder, wie es vom UNHCR heißt – allein in diesem Jahr waren rund 28.000 Kinder und Jugendliche unter den Geflüchteten.

Helfer sehen Regierungsappelle skeptisch

Regierungschef Mitsotakis hatte bereits im September an die EU-Staaten appelliert, zumindest Kinder aufzunehmen. Die Problematik konnte bisher auch der neue konservative Premier nicht in den Griff bekommen. Helfer mutmaßen, die Regierung belasse die Situation auf den Inseln absichtlich so schlecht, um weitere Menschen abzuschrecken. Athen hingegen kritisiert die mangelnde Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen.

Nach wie vor mangelt es auf den Inseln außerdem an Fachpersonal und Übersetzern bei der Bearbeitung der Asylanträge, weshalb die Menschen zum Teil länger als ein Jahr auf den Inseln ausharren, während immer neue Geflüchtete von der Türkei übersetzen. Lag die Zahl der Geflüchteten im April 2019 noch bei rund 14.000, ist sie seither auf fast 42.000 gestiegen, heißt es beim griechischen Bürgerschutzministerium.

Auch Inselbewohner besorgt

Konkret bedeutet das, dass die Aufnahmelager auf den Inseln heillos überfüllt sind. So leben etwa auf Samos knapp 7.500 Geflüchtete in und um ein Lager, das über gerade einmal 648 Plätze verfügt. Auf Lesbos beträgt die Kapazität 2.840 Plätze, die Zahl der Menschen beläuft sich laut griechischem Bürgerschutzministerium aktuell auf 18.620 Personen – und jeden Tag kommen neue hinzu.

Premier Mitsotakis hatte deshalb angekündigt, viele jener Menschen von den Inseln zu holen, die gute Aussichten auf Asyl haben. Gleichzeitig sollen die bestehenden Lager aufgelöst und neue, geschlossene Lager gebaut werden. Dieser Plan stößt jedoch bei Hilfsorganisationen und der Inselbevölkerung auf Kritik und Gegenwehr. Die Helfer warnen davor, die Menschen de facto in Gefängnisse zu sperren. Die Inselbewohner, die ohnehin seit Jahren unter dem Flüchtlingszustrom leiden, haben Angst, dass ihre Heimatinseln durch die neuen Lager langfristig zu „Flüchtlingsinseln“ werden.