Judy Garland auf der Bühne
Universum Film
„Judy“

Jenseits des Regenbogens

Das Musikbiopic „Judy“ ist eine Würdigung der großen US-Schauspielerin Judy Garland – und zugleich eine bedrückende Studie eines Hollywood-Systems, das seine Stars missbraucht und dann zurücklässt.

Es sieht so normal aus: zwei Teenager bei einem Date, die Burger und Pommes essen und herumblödeln. Doch nichts ist normal. Die eine ist Garland, der andere ist ihr Kostar Mickey Rooney. Und weil sie ein Filmstar ist, muss sie vor dem vollen Teller hungern. Denn das hier ist nicht wirklich ein Date, sondern eine Inszenierung für die Presse. Später bekommt die junge Judy dann von einer Studioassistentin ein paar Pillen, „um den Hunger zu zähmen“, die sie brav schluckt.

Die Szene ist herzzerreißend und doch warmherzig wie überhaupt der ganze Film über das Leben dieser Frau: „Judy“ unter der Regie von Rupert Goold erzählt aus dem Leben Garlands, ausgehend von einer Reihe von Konzerten, die sie 1968 wenige Monate vor ihrem Tod im Londoner Westend gab. Garland (gespielt von Renee Zellweger) ist finanziell ruiniert, sie will gar nicht nach England, will ihre Kinder nicht allein in der Obhut ihres Ex-Mannes Sid Luft (Rufus Sewell) lassen. Doch es bleibt ihr keine Wahl.

Judy mit Kindern.
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Für Kinder ist kein Platz auf der Bühne

Missbrauch vor der Kamera

Die Monate in London, eine weitere Heirat mit einem wesentlich jüngeren Mann, eine Geschäftsidee und ihr Scheitern, ihre Einsamkeit und ihr gesundheitlicher Verfall, und dann doch immer wieder ihre Brillanz auf der Bühne: All das ist im Film pointiert dargestellt mit Rückblenden in Garlands Kindheit und Jugend im Scheinwerferlicht. 1938 machten die Rolle der Dorothy in „Der Zauberer von Oz“ und der von ihr dargebotene Song „Somewhere over the Rainbow“ weltberühmt. Garland war damals erst 16 Jahre alt – und wurde dafür einem brutalen Drill unterworfen.

„Ich wusste nichts von dieser Phase in Judy Garlands Leben“, sagte Goold im ORF.at-Gespräch beim Zürich Filmfestival, „mir wurden ihre Arbeitsbedingungen erst durch die Recherche für diesen Film klar.“ Der Film beruht auf einem Bühnenstück, in dem diese Zeit allerdings nicht vorkam. „Unser Drehbuchautor Tom Edge hat sich dann diese erste Szene überlegt, in der die junge Judy mit ihrem Kostar Mickey Rooney einen Hamburger essen will, aber nicht darf. Ich wusste, dieser Teil von Judy Garlands Leben muss im Film sein.“

Die böse Macht der Produzenten

Verantwortlich für den Drill ist der Filmproduzent Louis B. Mayer, der Garlands außergewöhnliches Gesangstalent (als Teenager gespielt von Darci Shaw) entdeckt, sie zugleich aber auch zu zerstören beginnt. Seine Figur erinnert an das Verhalten eines anderen Filmproduzenten, Harvey Weinstein. „Er ist sicherlich eine faustische Figur im Film, kein zweidimensionaler Bösewicht: Zum einen missbraucht er Judy, vielleicht auch, wie Weinstein das mit manchen Schauspielerinnen gemacht hat, zum anderen erkennt er ihre Sucht nach dem Auftreten“, so Goold.

„Wir haben den Film allerdings zu entwickeln begonnen, bevor die Weinstein-Affäre ans Licht kam, das soll also nicht als Kommentar verstanden werden. Junge Stars wurden damals wie Studioeigentum behandelt, sie waren letztlich vertragliches Eigentum. Manchmal hört man das noch heute bei Hollywood-Produzenten, wenn die hinter verschlossenen Türen über ‚ihre‘ Schauspielerinnen reden und was die alles für sie tun würden.“

Judy Garland zusammen mit Louis B. Mayer.
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Er schafft an, sie muss singen: Garland (Shaw) mit Filmproduzent Louis B. Mayer (Cordery)

Familiengefühle fern von daheim

Der Machtmissbrauch, der Druck, die Pillen gegen Müdigkeit, Hunger und Unruhe machen Garland schließlich zu jener nervösen, verletzlichen und als „schwierig“ verrufenen Frau, die drei Jahrzehnte und Dutzende Filme später ein Weltstar ist, für den in den USA kaum noch jemand zu zahlen bereit ist. Die Konzertreihe in London ist ihre Chance, noch einmal auf die Beine zu kommen. Sie kann gar nicht ablehnen – egal wie groß ihre Einsamkeit ist.

Ein tragisches Leben

Das Biopic „Judy“ erzählt vom letzten Comeback der Jahrhundertsängerin und Schauspielerin Judy Garland.

„Wir haben mit Judys Garderobiere von damals gesprochen, die uns viele Details erzählt hat“, berichtete Goold von der Recherche. „Es gab da etwa einen Hund, der immer am Bühneneingang saß und den Judy jeden Abend mit zu sich ins Hotel nahm, weil sie so einsam war. Und sie rief abends manchmal die Kinder der Garderobiere an, um mit ihnen zu plaudern, weil sie mit ihren eigenen Kinder nicht reden konnte.“

Im Film trifft Garland auf ein schwules Paar, ihre größten Fans, mit denen sie einen tröstlichen Abend verbringt. „Wir wollten damit die LGBT-Community und ihre anhaltende Begeisterung für Judy Garland würdigen, speziell die der schwulen Männer jener Generation, in deren Jugend Homosexualität noch unter Strafe gestanden war“, so Goold. „Wir haben dafür mit vielen Leuten gesprochen, die diese Zeit erlebt haben. Daher kommt der Aspekt, in dem die Entkriminalisierung angesprochen wird und wie kurz das erst her ist.“

Interpretation statt Imitation

Zellweger spielt Garland mit großer Verletzlichkeit und singt auch alle Songs selbst – allerdings nicht immer nah am Vorbild. Nicht Imitation, die womöglich zur Karikatur werden könnte, sondern selbstbewusste Interpretation war es, was Goold von seiner Hauptdarstellerin wollte: „Wir können ohnehin nicht genau den Judy-Garland-Sound hinbekommen, denn selbst wenn es ganz genau wie Judy klingt, würde es eben nicht Judys Herz haben. Also haben wir nicht Perfektion gesucht, sondern lieber die emotionale Verbindung herausgearbeitet. Das finde ich das viel interessanter, als Judy Garland nachzumachen.“

Wie Zellweger der Rolle der Garland anlegt, ist auch dadurch interessant, dass ihre eigene komplizierte Beziehung zu Hollywood und zur Öffentlichkeit mitschwingt. Die ewigen gemeinen Kommentare zu Äußerlichkeiten nimmt sie mit in ihre Darstellung dieser so fragilen Bühnenpersönlichkeit und nutzt sie für sich. Auch dadurch ist „Judy“ nicht nur eines von vielen Biopics, wie sie in den vergangenen Jahren so beliebt wurden, sondern eine aufrichtige Kritik an Hollywood und einer Öffentlichkeit, die Garland immer wieder unrecht getan hatte.