US-Militärfahrzeug im Iraq
APA/AFP/Delil Souleiman
Chaos in Nahost

Verwirrung um US-„Abzugsbrief“

Wenige Tage nach der gezielten Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani durch die USA werden die Entwicklungen im Nahen Osten nicht nur immer gefährlicher, sondern auch immer verworrener. So haben die USA nun ein Schreiben an den Irak geschickt, in dem sie den von Bagdad geforderten Truppenabzug ankündigten. Der Brief hätte aber angeblich nie abgeschickt werden sollen.

Mitten in der hochsensisblen Situation – Experten schließen eine Zuspitzung bis hin zu einem Krieg zwischen den USA und dem Iran nicht mehr aus – ist den USA ein peinlicher Fehler passiert: Das irakische Parlament hatte am Montag aus Protest dagegen, dass Soleimani in der irakischen Hauptstadt Bagdad getötet wurde, eine nicht bindende Resolution beschlossen, wonach die US-Truppen den Irak verlassen müssten.

Nur wenige Stunden nach dem Votum, das fast ausschließlich von schiitischen Parteien getragen wurde, übermittelte der General der US-Marineinfanterie, William Seely, der irakischen Seite ein Schreiben, dass die US-geführte Anti-IS-Militärkoalition aus dem Irak abziehen wolle.

Trauerzug für Generals Kassam Soleimani
APA/AFP/Atta Kenare
Zu der Massentrauer in Teheran kamen laut Medienberichten Millionen

Laut Pentagon ein „Versehen“

In dem Brief heißt es, die US-Streitkräfte würden sich dafür in den kommenden Tagen und Wochen neu positionieren. Der Brief soll an die irakische Armeeführung gerichtet sein. Nach stundenlangem Rätseln folgte eine Klarstellung des Pentagons: Die USA hätten keine Pläne zum Abzug aus dem Irak, so US-Verteidigungsminister Mark Esper.

„Es wurde keine Entscheidung getroffen, den Irak zu verlassen. Punkt“, so Esper. Der Brief stehe im Widerspruch zur Haltung der US-Regierung, betonte er. US-Generalstabschef Mark Milley sagte, der Brief sei zwar echt, er sei aber versehentlich verschickt worden. In der Nacht auf Dienstag wurden allerdings Truppen aus der Grünen Zone in Bagdad, die mittlerweile häufig Ziel von Raketenbeschuss schiitischer Milizen ist, verlegt. Wie der öffentlich-rechtliche US-Radiosender NPR berichtete, seien die ganze Nacht lang Hubschrauber geflogen. Die Truppen seien entweder nach Katar oder in andere Regionen des Irak verlegt worden.

Iran stuft US-Truppen als „Terroristen“ ein

Als Reaktion auf die gezielte Tötung von Soleimani stufte der Iran sämtliche US-Truppen als „Terroristen“ ein. Das Parlament in Teheran verabschiedete am Dienstag ein entsprechendes Gesetz. Das iranische Parlament erhöhte auch das Budget der Revolutionsgarden (IRGC) bis zum Ende des persischen Jahres (20. März 2020). Das gab Parlamentspräsident Ali Laridschani heute bekannt. Auf Anweisung des obersten iranischen Führers Ajatollah Ali Chamenei wurde das Budget der Garden um 200 Millionen Euro erhöht, sagte Larijani nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA.

Auch die Erhöhung stehe in Zusammenhang mit der Umsetzung des Plans der „harten Rache“ gegen die USA für die Tötung Soleimanis. Soleimani, der die für Auslandseinsätze zuständigen Al-Kuds-Brigaden der Revolutionsgarden befehligt hatte, war am Freitag bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad getötet worden. Der Iran prüft Berichten von Dienstag zufolge 13 Racheszenarien. Das berichtete die Nachrichtenagentur Fars unter Berufung auf einen hochrangigen Sicherheitsbeamten.

US-Krise mit Iran und Irak

Die Tötung von Soleimani hat nicht nur den Konflikt zwischen den USA und dem Iran dramatisch verschärft, sondern auch helle Empörung bei der irakischen Regierung und im dortigen Parlament ausgelöst. Der geschäftsführende Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi verurteilte den Angriff als „politischen Mord“. Das Parlament forderte den Abzug der ausländischen Truppen aus dem Land – womit insbesondere die US-Truppen gemeint waren.

Berlin rüstet sich für möglichen raschen Abzug

Die deutsche Regierung stellt sich wegen des irakischen Parlamentsbeschlusses auf ein mögliches abruptes Ende des Bundeswehreinsatzes im Irak ein. Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte im ZDF-„heute journal“, kein Mitgliedsstaat der internationalen Militärkoalition gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) werde im Irak bleiben, „wenn man dort nicht erwünscht ist“. Die sunnitischen Parteien boykottierten die Resolution, die den Truppenabzug fordert. Die Bundeswehr bildet im Irak Streitkräfte aus.

Der Fraktionschef der EVP im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), sagte den Zeitungen der deutschen Funke-Gruppe, sollte der Irak ausländische Truppen doch weiterhin willkommen heißen, sei „das Engagement Deutschlands und Europas dort richtig und wichtig“. Weber rief die EU dazu auf, mehr Verantwortung im Nahen Osten zu übernehmen. Die EU-Außenminister wollen am Freitag in einer Sondersitzung über die Verschärfung der Spannungen im Nahen Osten beraten.

Chamenei ruft nach Vergeltung

Der iranische Staatschef Hassan Rouhani richtete am Montag eine neue scharfe Warnung an die USA. „Bedrohen Sie niemals die iranische Nation“, schrieb Rouhani auf Twitter als Reaktion auf die jüngsten Drohungen von US-Präsident Donald Trump. Dieser hatte mit Angriffen auf 52 iranische Ziele, darunter möglicherweise Kulturstätten, gedroht, sollte der Iran als Vergeltung für die Tötung Soleimanis Bürger und Einrichtungen der USA angreifen.

Hunderttausende feiern Soleimani als Märtyrer

Hunderttausende haben den Sarg von Soleimani in seinem Geburtsort Kerman begleitet. Er wird als Märtyrer gesehen. (Videoquelle: EBU/IRPRES)

Laut „Washington Post“ hatte Chamenei einen seiner seltenen Auftritte im Nationalen Sicherheitsrat. Dort wurden Vergeltungsmaßnahmen gegen die USA debattiert. Es müsse ein direkter und verhältnismäßiger Angriff auf die US-Interessen sein, sagte er. Weiters sollte die Vergeltung offen von den iranischen Streitkräften selbst ausgeführt werden, so Chamenei.

Sarif für regionale Zusammenarbeit ohne USA

Der Iran warnte am Dienstag weiter vor einer „Kriegstreiberei“ der USA und warb für eine konstruktive regionale Zusammenarbeit. „Die USA haben mit der Tötung eines hochrangigen iranischen Offiziers einen gefährlichen Kurs eingeschlagen, der schon sehr bald die gesamte Region gefährden könnte“, sagte Außenminister Mohammed Dschwad Sarif. Die Behauptung der USA, Frieden und Sicherheit für die Region zu wollen, sei lediglich „eine große historische Lüge“, sagte Sarif. Die USA hätten mehrmals bewiesen, dass ihre politischen Fehlkalkulationen über den Iran nicht nur die Region, sondern die ganze Welt gefährden, fügte der iranische Chefdiplomat hinzu.

Als Lösung für das Problem schlug Sarif eine regionale Zusammenarbeit ohne die Anwesenheit der USA vor. Das wäre weitaus konstruktiver für die Region, als Milliarden in amerikanische Militärausrüstungen zu investieren, so Sarif. „In dem Zusammenhang hat Präsident Hassan Rouhani den Friedensplan für den Persischen Golf und die Straße von Hormus vorgeschlagen“, sagte Sarif nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA. Den Plan hatte Rouhani im September vergangenen Jahres den Vereinten Nationen in New York vorgelegt. Die iranische Initiative soll sowohl die sichere Schifffahrt im Persischen Golf garantieren als auch die Spannungen in der Region reduzieren.

Hunderttausende bei Trauerzug für Soleimani in Kerman

Vor der Beisetzung Soleimanis begleiteten Medienangaben zufolge Hunderttausende Menschen den Trauerzug durch seinen Geburtsort Kerman. Der Marsch führte am Dienstag durch das Zentrum der Stadt im Südosten des Landes zum Märtyrerfriedhofe Die Zeremonie wurde erneut in fast allen Fernsehkanälen des Landes live übertragen.

Beim Trauerzug war auch der Kommandeur der Revolutionsgarden, Hussein Salami. „Wir werden Rache nehmen, und sie wird konsequent und hart sein, sodass die Amerikaner ihre Tat bitter bereuen“, sagte Salami. Die Masse erwiderte den Aufruf mit „Rache, Rache“ und „Allahu akbar“ (Gott ist unvergleichlich groß)-Rufen.

Wegen des erwarteten Massenandrangs war der Dienstag in Kerman zum örtlichen Feiertag erklärt worden – wie zuvor schon der Montag in der Hauptstadt Teheran. Damit wollte die Regierung möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, sich von dem General zu verabschieden. Zuvor hatte es in mehreren iranischen Städten große Trauerzüge gegeben. Allein in Teheran nahmen am Montag laut Medienberichten Millionen Menschen Abschied von Soleimani. Zuvor hatten Hunderttausende an den Trauerzeremonien in Ahwas, Maschhad und Ghom teilgenommen.