Menschen feiern den Brexit und winken mit britischen Fahnen in London
Reuters/Henry Nicholls
Historische Zäsur

Brexit-Nacht zwischen Euphorie und Trauer

Der „Morgen danach“ ist angebrochen: Nach 47 Jahren ist Großbritannien nun offiziell nicht mehr Mitglied der EU. Für die Britinnen und Briten war es eine emotionale Nacht. Die einen feierten, die anderen trauerten – und die Spaltung bleibt. Einig ist man sich nur darin, dass sich nun einiges verändern wird.

Doch vorerst gilt es, die Brexit-Nacht zu verarbeiten. Diese verlief gemischt – zwar gehörte die Straße den „Brexiteers“, doch auch die EU-Befürworter meldeten sich mit Abschiedsgesten zu Wort. Aus Respekt vor ihnen wurden die öffentlichen Feierlichkeiten schlank gehalten. Es gab weder ein Feuerwerk noch Kanonendonner, auch das Läuten von Big Ben kam aus der Konserve. Im Regierungssitz Downing Street wurde mit Champagner angestoßen, nachdem eine auf das Gebäude projizierte Uhr den Countdown bis zum Austritt angezeigt hatte.

Tausende Brexit-Freunde hielt das aber nicht davon ab, den historischen Moment zu feiern. Mit Schlag 23.00 Uhr Ortszeit – für den Austritt galt die in Brüssel gültige mitteleuropäische Zeit – brach Jubel unter den „Brexiteers“ aus, deren Festzentrale vor dem Parlament in London lag.

Fotostrecke mit 17 Bildern

Brexit-Befürworter bei einer Feier in London vor dem Parlament
AP/Jonathan Brady
„Happy Brexit Day“ mit viel rot, blau und weiß hieß es am Freitag vor dem Parlament
Der Führer der Brexit-Partei Nigel Farage
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
Ein lachender Gewinner des Abends war fraglos Brexit-Partei-Gründer Nigel Farage, treibende Figur hinter dem Austritt
Brexit-Gegner in Edinburgh, Schottland
Reuters/Russell Cheyne
Unglücklich zeigten sich hingegen viele Schottinnen und Schotten. Der Landesteil hatte 2016 mehrheitlich gegen den Brexit votiert.
Feiernde Menschen nach dem Brexit
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
Ausgelassene Feiern zu einer historischen Zäsur
Big Ben zeigt 23 Uhr
AP/Alastair Grant
Der aktuell in Renovierung befindliche Big Ben blieb still, obwohl die „Brexiteers“ auf ein Läuten gepocht hatten
Beleuchteter Eingang der 10 Downing Street
AP/Kirsty Wigglesworth
Dafür wurde der Sitz des britischen Premiers in der Londoner Downing Street 10 in den Farben des Union Jack beleuchtet
Britische Fahne wird aus dem Europagebäude entfernt
AP/Olivier Hoslet
Währenddessen in Brüssel: Die Fahne Großbritanniens wird aus dem EU-Ratsgebäude entfernt
Britische Fahne vor dem EU-Parlament in Straßburg wird entfernt
AP/Stringer
Auch die Fahne vor dem EU-Parlament in Straßburg ist Geschichte
Außenministerium in London
AP/Kirsty Wigglesworth
Ein zumindest entfernt an die britische Flagge erinnerndes Farbenspiel gab es auch am Außenministerium in London
Piccadilly Circus in London
Reuters/Dylan Martinez
„London is open“: Die Stadt London präsentierte sich am Abend des Brexits offen für alle Bürgerinnen und Bürger
Brexit-Gegner und -Befürworter
Reuters/Simon Dawson
Brexit-Befürworter und -Gegner trafen in London aufeinander – summa summarum blieb es ruhig
Brennende EU-Fahne
APA/AFP/Isabel Infantes
Allerdings wurden vereinzelt auch EU-Fahnen verbrannt
Ein Brexit-Befürworter
Reuters/Henry Nicholls
Erste Brexit-Befürworter fanden sich bereits am Nachmittag ein, sie kamen aus allen Landesteilen
Ein Brexit-Befürworter
AP/Alastair Grant
Die Freude bei den Brexit-Anhängern ist groß
Pro-EU anti-Brexit Demonstranten
APA/AFP/Glyn Kirk
„Wir sind hier, um zu bleiben, wir sind hier, um zu kämpfen“: Auch die Brexit-Gegner demonstrierten in London
EU-Fan mit Gitarre
Reuters/Simon Dawson
Mit der EU-Gitarre gegen den Austritt
Ein Pro-EU-Banner
APA/AFP/Ben Stansall
Im Süden Englands wurden Pro-EU-Botschaften projiziert

Die Kundgebung wurde vom Politiker Nigel Farage organisiert, der damals mit seiner UKIP maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Brexits hatte. Er sprach in der Nacht vom „wichtigsten Moment der modernen Geschichte“ Großbritanniens. „Wir haben es geschafft“, rief er. „Die Demokratie hat gesiegt.“ Laut der Nachrichtenagentur Reuters nahmen etwa 5.000 Menschen an der Versammlung teil.

Tag eins nach dem Brexit

Ab 1. Februar besteht die EU nur mehr aus 27 Staaten. Der Austritt Großbritanniens wurde in der Nacht auf Samstag vollzogen.

„God Save the Queen“ und trauernde Veteranen

Besungen wurde der Moment mit „God Save the Queen“, auch ein Alkoholverbot hielt die Fahnenschwenkenden nicht vom Anstoßen ab. Die wenigen in EU-Farben gekleideten Gegendemonstranten, die sich im Laufe des Tages auf den Platz einfanden, wurden erfolgreich mit „Shame on you!“-Rufen (dt.: „Schande über Euch“) vertrieben. Bis auf einige zerstörte EU-Flaggen und bengalische Feuer blieben die Feierlichkeiten ruhig und verlegten sich schließlich in Pubs und Bars.

Brexit-Anhänger stehen auf einer EU-Flagge
AP/Frank Augstein
Auch Anti-EU-Schmähgesänge und zerstörte EU-Flaggen gab es am Freitag

Die EU-Freunde setzten währenddessen im ganzen Land emotionale Abschiedsgesten. Unter anderem organisierte die Gruppe Led by Donkes eine riesige Projektion auf die weißen Klippen von Dover. Zu sehen waren Interviews mit Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die den Abschied von der EU betrauern. „Ich bin wirklich traurig, dass Großbritannien die EU verlässt. Es hat mir sehr viel bedeutet.“ Er sei „gern Europäer genannt worden. Dass man in ganz Europa Kameradschaft hat, ist etwas Besonderes“, hieß es unter anderem. Das Video schloss mit einem einzelnen EU-Stern auf blauem Untergrund und den Worten: „Das ist unser Stern. Passt gut auf ihn auf.“

In Schottland, das mehrheitlich gegen den Austritt gestimmt hatte, fanden sich die Menschen vor dem Parlament zu einem Marsch unter dem Motto „Wir vermissen euch jetzt schon“. Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte direkt nach dem Brexit wieder die Unabhängigkeit ihres Landesteils. „Schottland wird zum Herzen Europas als ein unabhängiges Land zurückkehren“, twitterte Sturgeon nach dem EU-Austritt Großbritanniens in der Nacht zum Samstag und postete das Bild einer Flagge der Europäischen Union dazu.

Ein Abschiedsgruß in französisch, projeziert auf die Klippen von Dover
APA/AFP/Tim P. Whitby
Sky News projizierte ein „Au revoir“ auf die Klippen

Johnson rief „neue Ära“ aus

Premierminister Boris Johnson nahm in seiner Rede das Wort Brexit indes nicht in den Mund. Der EU-Austritt Großbritanniens sei „kein Ende, sondern ein Anfang“, sagte er in seiner Ansprache und kündigte eine „neue Ära der freundschaftlichen Zusammenarbeit“ mit der EU an. Der Weg, der vor Großbritannien liege, sei vielleicht holprig, der Austritt biete jedoch die Chance auf „erstaunliche Erfolge“.

Seine Position will Johnson bereits am Montag in einer Rede an die Nation darstellen. Wie er durchsickern ließ, will er sein Land von der Bindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn das Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, wird nach einem Bericht des „Telegraph“ als Ziel ausgeben. Klar ist nur: Die Verhandlungen werden hart und intensiv, der Zeitraum ist extrem kurz anberaumt.

Zwischen „Masochismus“ und „Muskeln“

Trotz aller öffentlicher Rücksichtnahme zeigte sich auch im Laufe der Brexit-Nacht, wie sehr das Thema die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs nicht erst seit dem Referendum am 23. Juni 2016 in zwei Lager teilt. Die anhaltende Spaltung der britischen Gesellschaft zeichnete sich auch an den Zeitungsständen ab. „Muscles without Brussels“ (dt.: „Muskeln ohne Brüssel“) und „Make Leave… Not War“ titelte etwa die Boulevardzeitung „The Sun“, die vehement für den Brexit geworben hatte. Ein „glorreiches neues Großbritannien“ rief auch der „Daily Express“ aus. „Gut gemacht, britisches Volk – endlich draußen“, titelte der „Daily Telegraph“.

Britische Zeitungen am Tag nach dem Brexit
AP/Alberto Pezzali
Polarisiert ist auch die britische Presse

Der den Brexit ablehnende „Guardian“ stellte hingegen fest, dass „die gemischten Gefühle am Brexit-Tag zeigen, dass Großbritannien sich noch nicht wohl in seiner Haut fühlt“. Dazu brachte er einen Kommentar des britischen Schriftstellers Ian McEwan, laut dem das „sinnloseste, masochistischste Ziel in der Geschichte unseres Landes erfüllt sei“. Der Londoner „Standard“ prophezeite einen „holprigen Weg“ aus der EU, und der Sender Sky News ließ mit der Laufbandbotschaft „Farewell, au revoir, Auf Wiedersehen“, ein wenig Wehmut anklingen.