Doch vorerst gilt es, die Brexit-Nacht zu verarbeiten. Diese verlief gemischt – zwar gehörte die Straße den „Brexiteers“, doch auch die EU-Befürworter meldeten sich mit Abschiedsgesten zu Wort. Aus Respekt vor ihnen wurden die öffentlichen Feierlichkeiten schlank gehalten. Es gab weder ein Feuerwerk noch Kanonendonner, auch das Läuten von Big Ben kam aus der Konserve. Im Regierungssitz Downing Street wurde mit Champagner angestoßen, nachdem eine auf das Gebäude projizierte Uhr den Countdown bis zum Austritt angezeigt hatte.
Tausende Brexit-Freunde hielt das aber nicht davon ab, den historischen Moment zu feiern. Mit Schlag 23.00 Uhr Ortszeit – für den Austritt galt die in Brüssel gültige mitteleuropäische Zeit – brach Jubel unter den „Brexiteers“ aus, deren Festzentrale vor dem Parlament in London lag.
Die Kundgebung wurde vom Politiker Nigel Farage organisiert, der damals mit seiner UKIP maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Brexits hatte. Er sprach in der Nacht vom „wichtigsten Moment der modernen Geschichte“ Großbritanniens. „Wir haben es geschafft“, rief er. „Die Demokratie hat gesiegt.“ Laut der Nachrichtenagentur Reuters nahmen etwa 5.000 Menschen an der Versammlung teil.
Tag eins nach dem Brexit
Ab 1. Februar besteht die EU nur mehr aus 27 Staaten. Der Austritt Großbritanniens wurde in der Nacht auf Samstag vollzogen.
„God Save the Queen“ und trauernde Veteranen
Besungen wurde der Moment mit „God Save the Queen“, auch ein Alkoholverbot hielt die Fahnenschwenkenden nicht vom Anstoßen ab. Die wenigen in EU-Farben gekleideten Gegendemonstranten, die sich im Laufe des Tages auf den Platz einfanden, wurden erfolgreich mit „Shame on you!“-Rufen (dt.: „Schande über Euch“) vertrieben. Bis auf einige zerstörte EU-Flaggen und bengalische Feuer blieben die Feierlichkeiten ruhig und verlegten sich schließlich in Pubs und Bars.
Die EU-Freunde setzten währenddessen im ganzen Land emotionale Abschiedsgesten. Unter anderem organisierte die Gruppe Led by Donkes eine riesige Projektion auf die weißen Klippen von Dover. Zu sehen waren Interviews mit Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die den Abschied von der EU betrauern. „Ich bin wirklich traurig, dass Großbritannien die EU verlässt. Es hat mir sehr viel bedeutet.“ Er sei „gern Europäer genannt worden. Dass man in ganz Europa Kameradschaft hat, ist etwas Besonderes“, hieß es unter anderem. Das Video schloss mit einem einzelnen EU-Stern auf blauem Untergrund und den Worten: „Das ist unser Stern. Passt gut auf ihn auf.“
In Schottland, das mehrheitlich gegen den Austritt gestimmt hatte, fanden sich die Menschen vor dem Parlament zu einem Marsch unter dem Motto „Wir vermissen euch jetzt schon“. Regierungschefin Nicola Sturgeon forderte direkt nach dem Brexit wieder die Unabhängigkeit ihres Landesteils. „Schottland wird zum Herzen Europas als ein unabhängiges Land zurückkehren“, twitterte Sturgeon nach dem EU-Austritt Großbritanniens in der Nacht zum Samstag und postete das Bild einer Flagge der Europäischen Union dazu.
Johnson rief „neue Ära“ aus
Premierminister Boris Johnson nahm in seiner Rede das Wort Brexit indes nicht in den Mund. Der EU-Austritt Großbritanniens sei „kein Ende, sondern ein Anfang“, sagte er in seiner Ansprache und kündigte eine „neue Ära der freundschaftlichen Zusammenarbeit“ mit der EU an. Der Weg, der vor Großbritannien liege, sei vielleicht holprig, der Austritt biete jedoch die Chance auf „erstaunliche Erfolge“.
Seine Position will Johnson bereits am Montag in einer Rede an die Nation darstellen. Wie er durchsickern ließ, will er sein Land von der Bindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn das Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, wird nach einem Bericht des „Telegraph“ als Ziel ausgeben. Klar ist nur: Die Verhandlungen werden hart und intensiv, der Zeitraum ist extrem kurz anberaumt.
Zwischen „Masochismus“ und „Muskeln“
Trotz aller öffentlicher Rücksichtnahme zeigte sich auch im Laufe der Brexit-Nacht, wie sehr das Thema die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs nicht erst seit dem Referendum am 23. Juni 2016 in zwei Lager teilt. Die anhaltende Spaltung der britischen Gesellschaft zeichnete sich auch an den Zeitungsständen ab. „Muscles without Brussels“ (dt.: „Muskeln ohne Brüssel“) und „Make Leave… Not War“ titelte etwa die Boulevardzeitung „The Sun“, die vehement für den Brexit geworben hatte. Ein „glorreiches neues Großbritannien“ rief auch der „Daily Express“ aus. „Gut gemacht, britisches Volk – endlich draußen“, titelte der „Daily Telegraph“.
Der den Brexit ablehnende „Guardian“ stellte hingegen fest, dass „die gemischten Gefühle am Brexit-Tag zeigen, dass Großbritannien sich noch nicht wohl in seiner Haut fühlt“. Dazu brachte er einen Kommentar des britischen Schriftstellers Ian McEwan, laut dem das „sinnloseste, masochistischste Ziel in der Geschichte unseres Landes erfüllt sei“. Der Londoner „Standard“ prophezeite einen „holprigen Weg“ aus der EU, und der Sender Sky News ließ mit der Laufbandbotschaft „Farewell, au revoir, Auf Wiedersehen“, ein wenig Wehmut anklingen.