Kinderärztin mit einem Mädchen
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Schwierige Arztsuche

„Nehmen Sie noch neue Patienten?“

Die Zahl der Ärzte und Ärztinnen in Österreich hat sich in den vergangenen 20 Jahren auf über 46.000 verdoppelt. Und doch ist die Suche nach einem verfügbaren und passenden Arzt schwieriger geworden. „Nehmen Sie noch neue Patienten?“ wird zur Standardfrage bei der Arztsuche, wenn man es noch nicht in die Patientenkartei eines Facharztes mit Kassenvertrag geschafft hat.

Ist das Patientenkontingent doch noch nicht ganz ausgeschöpft, gibt es häufig erst nach mehreren Wochen, zum Teil sogar einigen Monaten, einen Termin. In der Wiener Patientenanwaltschaft sind das häufige Beschwerden. Übrig bleibt der Weg zum Privatarzt oder ins Krankenhaus – mit vielen Stunden Wartezeit.

Seit Langem gibt es Bemühungen, das teurere Spitalssystem zu entlasten und mehr Patienten in den niedergelassenen Bereich zu bringen – also zum Hausarzt, in die Facharztpraxen oder Primärversorgungszentren. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) will diesen Weg fortsetzen und den Ausbau von Primärversorgungseinheiten fördern. Derzeit gibt es österreichweit 17, bis 2021 sollen es laut Plan 75 werden.

Minister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Rudolf Anschober
ORF.at/Roland Winkler
Gesundheitsminister Anschober ist gefragt, Länder und Kassen an einen Tisch zu bringen

Vorarlberg setzt auf Nachtbereitschaft

Österreich ist nach wie vor das Land der Spitäler. Im EU-Vergleich hat es nach Deutschland die zweithöchste Bettendichte im Krankenhaussektor. Von knapp 40 Mrd. Euro Gesundheitsausgaben pro Jahr fließen fast 45 Prozent in Krankenanstalten und in Pflegeheime. Etwa die Hälfte wird für die ambulante Versorgung aufgewandt. Das geht aus Zahlen des Reports der Gesundheitsforschungsorganisation HealthSystemIntelligence (HS&I) „Leistungskraft regionaler Gesundheitssysteme“ auf Basis von Eurostat-Zahlen hervor.

Eine Konsequenz sind überlastete Spitalsambulanzen und lange Wartezeiten. Die Bundesländer versuchen unterschiedliche Ansätze, dem gegenzusteuern. In Vorarlberg soll die Anfang des Jahres eingeführte Ärztebereitschaft die Spitäler entlasten und zugleich Kosten sparen. Die Finanzierung von jährlich 1,34 Mio. Euro für die Nachtbereitschaft liegt bei Land und Gemeinden.

Wien will auf Erstversorgungsambulanzen (EVA) setzen. Andere Landeskrankenhäuser wie das Klinikum Graz oder das Kepler Universitätsklinikum in Linz verfügen bisher nicht über diese Anlaufstelle im Spital abseits der Notaufnahme. In den EVAs sollen praktische Ärzte eine erste Einschätzung geben, ob der Patient oder die Patientin zum Hausarzt oder einem anderen Facharzt geschickt wird, in die Notaufnahme des Spitals kommt oder stationär aufgenommen wird. Das Krankenhaus Hietzing startete vor wenigen Wochen mit einem Pilotprojekt. Die dortige EVA hat werktags von zehn bis 18.00 Uhr geöffnet.

EVA soll Spitäler entlasten

Damit sollen auch Nichtakutfälle, die sonst in der Notaufnahme länger warten müssten, schneller zu einem untersuchenden Arzt kommen. Bis zum Sommer möchte der Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) auf Basis der Erfahrungen über die Weiterführung und mögliche längere Öffnungszeiten entscheiden.

Aufnahme im Krankenhaus Speising
ORF.at/Birgit Hajek
Stundenlange Wartezeiten in Österreichs Spitalsambulanzen sind nach wie vor Alltag

„Wir erwarten uns eine große Entlastung von diesen schon lange geforderten Erstversorgungsambulanzen“, sagt Wolfgang Weismüller, Vizepräsident der Wiener Ärztekammer im ORF.at-Interview. Er hofft noch heuer auf eine flächendeckende Umsetzung in Wien. Ob das so schnell kommt, ist fraglich. Der Aufbau von EVAs in anderen Wiener Gemeindespitälern heuer sei noch offen, hieß es aus dem KAV gegenüber ORF.at.

„Sind in einem Nadelöhr“

Selbst wenn diese Maßnahme die Spitäler entlasten könnte, fehlen im niedergelassenen Bereich die entsprechenden Strukturen, die diese Patienten auffangen würden, kritisiert die Gesundheitsökonomin und HS&I-Direktorin Maria Hofmarcher im ORF.at-Interview: „Da sind wir in einem Nadelöhr.“ Österreich habe ein sehr gutes Gesundheitssystem, wenn es darum gehe, Menschenleben zu retten und schwere Krankheiten zu überleben. Aber die Gruppe der chronisch Kranken sei nicht gut versorgt.

Die Patientenanwaltschaft macht ähnliche Erfahrungen. In der Schmerztherapie etwa gebe es kaum Anästhesisten mit Kassenvertrag. Betroffen davon seien rund eine Million Menschen in Österreich. Ihnen bleibe der Weg in die überfüllten und überlasteten Spitalsambulanzen oder zu einem Privatarzt. Engpässe gibt es auch bei Kinderärzten sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, und auch Gynäkologen mit Kassenvertrag sind immer schwieriger zu finden.

Ein Kassenarzt für knapp 9.000 Kinder

Im steirischen Bezirk Murau etwa gibt es zwei privat zu bezahlende Gynäkologen, mit Kassenvertrag keinen einzigen. Bei Kinderärzten gibt es dasselbe Verhältnis. Auch im städtischen Umfeld gibt es Engpässe. Im 14. Bezirk in Wien etwa gibt es derzeit noch einen einzigen Kinderarzt mit Kassenvertrag, aber vier Wahlärzte – für insgesamt knapp 9.000 in dem Bezirk lebenden Null- bis Neunjährige. Ähnlich ist auch das Angebot von Gynäkologen hier – vier haben noch einen Kassenvertrag, 14 sind Wahlarztordinationen. In Österreich waren mit Ende des vergangenen Jahres laut Österreichischer Ärztekammer 95 Kassenstellen bei Allgemeinmedizinern und 62 bei Fachärzten nicht besetzt.

Grafik zeigt die Entwicklung der Ärzte zwischen 2000 und 2018
Grafik: ORF.at; Quelle: Ärztekammer

Ärztekammer-Vizepräsident Weismüller kann aufgrund des Honorierungssystems nachvollziehen, warum manche Kassenärzte keine neuen Patienten mehr aufnehmen können: „Sie können nicht noch mehr durchlassen. Sie sind am Limit.“ Das Honorierungssystem müsse man hinterfragen, meint auch die Wiener Patientenanwaltschaft. Allerdings sei zuletzt in den Gesamtvertrag viel Geld hineingeflossen. Die Honorare seien gestiegen, aber das habe sich weniger auf die Leistungen für Patienten wie etwa mehr Kassenstellen und längere Öffnungszeiten der Praxen ausgewirkt.

Versorgungsinteresse fehlt

Dazu kommen unterschiedliche Interessenlagen der Akteure. Für die Krankenkassen etwa ist es billiger, wenn Patienten sich auf einer Spitalsambulanz statt im niedergelassenen Bereich behandeln lassen. Hofmarcher spricht hier von einem „asymmetrischen Systemschock“. Durch die zersplitterte Aufteilung von Finanzierung und Zuständigkeiten sei „seitens der Krankenversicherung kein Versorgungsinteresse mehr geweckt. Die sind natürlich froh, wenn die Patienten in die Spitäler gehen.“

Für die Finanzierung der Spitäler zahlen die Kassen Pauschalbeträge an die Länder. Die Länder sind vorrangig für Spitäler und Pflege verantwortlich. Der ambulante Bereich wiederum wird zum Großteil von den Kassen finanziert. Diese Fragmentierung sieht Hofmarcher als eines der größten Hindernisse für eine bessere Versorgung im Gesundheitssystem und als eine Ursache für Versorgungslücken.

Finanzierung aus einer Hand

Als einen Ausweg sieht Hofmarcher eine Zusammenführung der Mittel von Krankenversicherungen und Ländern in einem „Ambulanztopf“ für die Finanzierung der ambulanten Versorgung aus einer Hand – bei Ärzten und Primärversorgungszentren im niedergelassenen Bereich, Spitalsambulanzen und die Pflege zu Hause.

Auch die Ärztekammer fordert schon länger eine Finanzierung aus einer Hand. Im derzeitigen System sei die Krankenkasse nicht daran interessiert, dass der Patient nicht im Spital behandelt werde, ist auch Weismüller überzeugt.

„Zu viele Kapitäne auf Augenhöhe“

Entscheidend dabei sei, dass sich Länder und Sozialversicherung unter den Vorgaben des Bundes absprechen und koordinieren, je nachdem, was im jeweiligen Bundesland gebraucht wird. In mehreren Gremien wie etwa der Zielsteuerungskommission werde bereits geredet. Nach wie vor lasse die gemeinsame Planung aber zu wünschen übrig, zeigte sich Hofmarcher verärgert. Es gebe „zu viele Kapitäne, die auf Augenhöhe miteinander agieren“, so die Ökonomin. Der Nachteil sei, dass niemand mehr auf dem Fahrersitz sitze.

Ärzte müssten zudem akzeptieren, dass „zusätzliche Mittel des Gesundheitssystems nicht ihnen allein gehören, sondern der Versorgung“, so Hofmarcher – also auch allen anderen, die daran beteiligt sind von Pflegekräften bis zu Ergotherapeuten. Denn auch gefragte Therapieformen wie Logo- und Ergotherapie auf Kasse sind Mangelware und mit langen Wartezeiten auf einen freien Platz verbunden.

Das türkis-grüne Regierungsprogramm sieht eine „verbesserte Abstimmung der medizinischen Versorgung zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung“ sowie eine verbesserte Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe vor. Ob ein gemeinsamer „Ambulanztopf“ für Anschober infrage kommt, lässt er auf ORF.at-Anfrage offen. Er will nun in den nächsten Monaten die künftigen Schwerpunkte klären – „in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess mit den Ländern“.