Tayyip Erdogan
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Flüchtlinge als Faustpfand

Erdogan erhöht Druck auf EU

Der Dauerkonflikt zwischen der Türkei und der EU wegen der Syrien-Flüchtlinge spitzt sich wieder deutlich zu. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versucht mit der Ankündigung, Flüchtlinge könnten frei in Richtung EU weiterziehen, den Druck auf Europa zu erhöhen. Sonntagfrüh war in Ankara von 75.000 Personen die Rede. Der österreichische Experte Gerald Knaus findet, die EU müsse im eigenen Interesse der Türkei rasch helfen.

Die Türkei fordert von der EU seit Monaten mehr Geld im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingspakts. Innerhalb der Europäischen Union gibt es dabei allerdings keine Einigkeit. Mehrere Länder sind gegen zusätzliche Milliarden für Ankara, das mit dem Flüchtlingspakt die aus Syrien kommenden Flüchtlinge an der Weiterreise in die EU hindert und diese im eigenen Land versorgt.

Durch die Kämpfe im Norden Syriens, insbesondere in der Provinz Idlib, sind allerdings seit Ende vergangenen Jahres rund eine Million neue Flüchtlinge dazugekommen. Es ist die größte menschliche Katastrophe seit Beginn des Bürgerkriegs. Idlib ist die letzte verbliebene Rebellenhochburg.

Mit Einmarsch selbst Lage verschärft

Die Türkei, die im Bürgerkrieg islamistische Rebellen unterstützt, hatte zuletzt bei Kämpfen mit der syrischen Armee, die von russischer Luftwaffe unterstützt wurde, mehr als 30 Soldaten verloren. Der Konflikt zwischen der Türkei und Assad mit seiner Schutzmacht Russland droht vollends zu eskalieren.

Zuvor hatte Ankara selbst die humanitäre Lage verschärft, indem die türkische Armee im Herbst in den Norden Syriens einmarschiert war, um an der Grenze eine „Sicherheitszone“ zu schaffen – und um dort regierende Kurden aus dem Gebiet zu vertreiben. Ankara betrachtet die dortigen Kurdenmilizen als Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als Terrororganisation.

Atma Flüchlingslager in Idlib
Reuters/Umit Bektas
Die Flüchtlinge in der Türkei werden erneut zum Faustpfand im Syrien-Konflikt

Nun will Erdogan offenbar, dass die EU ihn zumindest durch mehr Geld für Flüchtlinge unterstützt. Mehr als dreieinhalb Millionen Flüchtlinge befinden sich in der Türkei. Doch die Kritik in der Bevölkerung wird zusehends stärker.

Türkei: Haben 75.000 Personen Grenze passieren lassen

Nach eigenen Angaben von Sonntagfrüh ließ die Türkei mehr als 75.000 Flüchtende die Grenze Richtung EU passieren. Bis Sonntag gegen 9.55 Uhr Ortszeit (7.55 Uhr MEZ) hätten 76.358 Migranten über die Provinz Edirne die Grenze überschritten, teilte der türkische Innenminister Süleyman Soylu am Sonntag via Twitter mit.

In der Provinz Edirne gibt es Grenzübergänge nach Griechenland und nach Bulgarien. Allerdings berichteten zunächst weder Sofia noch Athen über das Eintreffen größerer Zahlen von Migranten. In der Nacht auf Sonntag blieb es ruhig, bisher hatte die griechische Polizei 9.600 Personen am Grenzübertritt gehindert, hieß es am Sonntag offiziell.

UNO-Agentur spricht von 13.000

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind mehr als 13.000 Migranten an der Grenze zu Griechenland angekommen. Tausende Migranten, darunter auch Familien mit kleinen Kindern, verbrächten eine kalte Nacht an der Grenze, teilte die UNO-Agentur Sonntagfrüh mit.

Ihre Mitarbeiter hätten entlang der 212 Kilometer langen Grenze zwischen der Türkei und Griechenland mindestens 13.000 Menschen beobachtet, die sich an Grenzübergängen in Gruppen von bis zu 3.000 Menschen versammelt hätten.

Frontex schickt Verstärkung

Die EU-Grenzschutzbehörde reagierte am Sonntag und kündigte an, zusätzliche Beamte und Ausrüstung an die griechische Grenze zu schicken. Die Alarmstufe bei Frontex für alle EU-Grenzen zur Türkei wurde auf „hoch“ angehoben.

Gespaltene Reaktionen in Europa

Die Reaktionen in Europa waren so gespalten und widersprüchlich, wie die Union es in der Frage seit Jahren ist: Griechenland verschärfte seinen Grenzschutz und kritisierte Erdogan. Bulgarien, das so wie Griechenland eine Landgrenze mit der Türkei hat, erklärte ebenfalls, jederzeit den Grenzschutz verschärfen zu können.

Zugleich forderte Ministerpräsident Boyko Borissow, die Türkei bis spätestens bis Donnerstag mit den notwendigen Mitteln zu versorgen, damit diese die Migranten zurücknehmen und sich um diese kümmern könnten. Er will Erdogan am Montag treffen.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die den Pakt mit Erdogan federführend ausverhandelt hatte, telefonierte mit diesem. Nach Auskunft ihres Sprechers sagte Merkel dabei Erdogan die Solidarität der Bundesregierung bei der humanitären Unterstützung der vertriebenen Menschen in Idlib zu. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) betonte in der ZIB, eine große Flüchtlingsbewegung wie 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Er bot österreichische Polizisten für den Schutz der EU-Außengrenze an.

Von der Leyen beobachtet Lage „mit Sorge“

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht die Lage an den EU-Grenzen zur Türkei „mit Sorge“. „In diesem Stadium ist es unsere höchste Priorität sicherzustellen, dass Griechenland und Bulgarien unsere ganze Unterstützung haben“, schrieb sie am Samstag auf Twitter. Die EU-Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex sei in Bereitschaft.

Nehammer: Österreich trifft Vorbereitungen

„Österreich wird im Bezug auf die Situation in der Türkei Vorbereitungen für Grenzschutzmaßnahmen treffen“, sagte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) laut einer Aussendung von Sonntagfrüh. Nehammer sei auch von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) dementsprechend beauftragt worden. Nehammer habe in Gesprächen mit mehreren Amtskollegen erneut betont, dass rasch gehandelt werden müsse und sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholen dürfe.

Der Innenminister habe am Samstag mit dem griechischen Migrationsminister Notis Mitarakis, dem deutschen Innenminister Horst Seehofer, dem bulgarischen Innenminister Mladen Marinov und dem kroatischen Innenminister Davor Bozinovic telefoniert. In den Gesprächen sei auch über die Einhaltung des Türkei-Deals gesprochen worden. Griechenland habe zugesichert zu reagieren, sollte sich die Situation an der Grenze noch weiter verschärfen. Dazu seien bereits zusätzliche Kräfte für den Grenzschutz mobilisiert worden.

Nehammer betonte laut dem Innenministerium, die Situation sei „eine große Bewährung für den europäischen Außengrenzschutz. Österreich ist bereit zu unterstützen.“ Man biete „zusätzliche Polizisten zur Unterstützung vor Ort an und sind laufend mit unseren europäischen Partnern im Austausch. Unser aller Ziel muss es sein, die Menschen nicht mehr durch Europa durchzuwinken, sondern an der Außengrenze anzuhalten. Im Notfall sind wir aber auch bereit, unsere Grenzen eigenständig zu schützen.“

Experte: EU muss Türkei helfen

Schon vor Wochen hätte die EU nach Ansicht des österreichischen Migrationsforschers Gerald Knaus der Türkei zusagen müssen, sie in der Flüchtlingsfrage weiter zu unterstützen. Noch könne der politische Fehler des Nichtagierens korrigiert werden, sagte der Mitinitiator des EU-Türkei-Abkommens am Samstag im Interview mit „Deutschlandfunk“.

„Man braucht die Partnerschaft. Die Türkei, Griechenland und Deutschland – das ist ein Hauptzielland für viele, die da auf dem Weg sind – müssen erkennen, dass sie ein gemeinsames Interesse haben, irreguläre Migration zu stoppen, dafür Flüchtlinge zu unterstützen, wo sie sind, die EU-Hilfe für die Türkei fortführen.“

Außerdem forderte Knaus eine Konferenz, um darüber zu beraten, was mit den Menschen passieren soll, die jetzt aus Idlib kommen. „Da kann man nicht einfach sagen, das ist ein türkisches Problem und wir kümmern uns da nicht darum“, so Knaus.

ORF-Korrespondent Jörg Winter zur Lage in der Türkei

Erdogan hatte 2016 mit der EU vereinbart, Migranten verstärkt davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, doch inzwischen wächst der Druck, analysiert ORF-Korrespondent Jörg Winter in Istanbul.

Weitere Hilfe entscheidend

Die Türkei stehe unter enormem Druck, weil weitere Hunderttausende Menschen in Idlib davor stehen, in die Türkei zu kommen. Wichtig sei, dass Europa die Syrer in der Türkei, die dreimal mehr Syrer als die gesamte EU aufgenommen habe, weiter unterstützt. „Diese Unterstützung hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren kaum noch Syrer Richtung Europa gekommen sind, sondern in Schulen gingen, medizinische Versorgung hatten, Sozialhilfe hatten. Aber dieses Geld ist jetzt verplant. Das war gedacht für vier Jahre, es wird noch ausgegeben, aber es werden keine neuen Projekte mehr geplant.“

Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
Ein Flüchtlingslager mit selbst gebauten Unterkünften auf der griechischen Insel Lesbos

„Populismus und Panik auf allen Seiten“

Die EU versage außerdem an ihren Grenzen selbst. „Wir haben seit Jahren jetzt Pushbacks, also irreguläres Zurückstoßen von Flüchtlingen, an der kroatisch-bosnischen Grenze, an der ungarisch-serbischen Grenze“, sagte Knaus. „Und das, was wir jetzt an der griechischen Grenze sehen, ist ja eigentlich ein Widerspruch zu EU-Recht.“

So breche jede Glaubwürdigkeit weg, etwa der Türkei zu sagen, wie sie sich an ihren Grenzen verhalten solle. Jeder Staat habe das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren, so Knaus. Aber man dürfe nicht so wie Griechenland Menschen an der Grenze stoppen und einfach ins Niemandsland zurückstoßen. „Man müsste ein Verfahren machen, man müsste feststellen, ob sie Schutz brauchen. Natürlich braucht man dazu, weil man ja die Landesgrenze kontrollieren will, einen Partner. Und das Fatale an der jetzigen Situation ist, dass hier jetzt Populismus und Panik auf allen Seiten regiert.“

Karte Syrien und Nachbarländer, Zahl der Flüchtlinge
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: UNHCR

Keine Waffenpause

Die jüngsten Gespräche zwischen Russland und der Türkei haben bisher keine Waffenpause ergeben. Das Außenministerium in Moskau erklärte nun, beide Seiten seien sich einig gewesen, die Spannungen in Idlib abzubauen. Doch die Kämpfe in der syrischen Provinz hielten an. Syrische und russische Kampfflieger setzten am Samstag ihre Angriffe auf die strategisch wichtige Stadt Sarakeb fort. Das türkische Militär attackierte am späten Freitagabend die Stellung der vom Iran unterstützen radikalislamischen Hisbollah-Miliz in der Nähe Sarakebs.