EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
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Erste 100 Tage

Deadline für von der Leyens Versprechen

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte sich zu Beginn ihrer Amtszeit 100 Tage Zeit gegeben, um die ersten politische Signale zu setzen – allen voran in der Klimapolitik und Digitalisierung. Jedoch zeigten gerade die letzten Tage vor der selbst auferlegten Deadline am Montag, dass sich in Europa vieles, aber bei Weitem nicht alles planen lässt.

„Es ist wichtig, wie der Start einer neuen Kommission ist“, sagte Janis Emmanouilidis vom European Policy Center (EPC) in Brüssel gegenüber ORF.at. Aber: „Man darf sich nicht erwarten, dass in 100 Tagen schon vieles entschieden ist. Natürlich nicht.“ Doch dürften sich die EU-Bürgerinnen und -Bürger sehr wohl erwarten, „dass man die Dinge auf die Strecke bekommt, dass man klar festlegt, welche Prioritäten man hat und die auch kommuniziert“, so Emmanoulidis.

Bereits in einer Rede vor ihrer Bestätigung als Kommissionspräsidentin im Juli sprach von der Leyen davon, einen europäischen „Green Deal“ vorlegen zu wollen. Nur wenige Monate später wurde dieser präsentiert und auch bereits von den Mitgliedsstaaten – mit ein paar Abweichungen vom Ursprungsplan – abgesegnet. Das ambitionierte Vorhaben soll den Kontinent bis 2050 klimaneutral machen.

Vorschlag zu Klimagesetz 2050 präsentiert

Klimaneutralität, das bedeutet, alle Treibhausgase zu vermeiden oder auszugleichen, etwa durch Aufforstung und Speicherung. Eine Billion Euro an Investitionen bis 2030 will die EU dafür aufbringen. Damit soll das Pariser Klimaabkommen von 2015 umgesetzt und die Erwärmung der Erde bei einem verträglichen Maß gestoppt werden. Nötig sind dafür ein kompletter Umbau der Wirtschaft und die Abkehr von Öl, Kohle und Gas.

Greta Thunberg mit Klimaaktivisten in Brüssel
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Aktivistinnen und Aktivisten fordern raschere Initiativen zum Klimaschutz

Rechtzeitig vor dem 100. Tag präsentierte Frans Timmermans, Kommissar für Klimaschutz, vergangenen Mittwoch den ersten Vorschlag zum Klimagesetz 2050. Der Kern dessen ist ein delegierter Rechtsakt, wonach die EU-Kommission in Eigenregie nachschärfen will, sollte sich die EU nicht auf Klimakurs befinden. Klimaaktivistinnen und -aktivisten geht das nicht weit genug. „Dieses Klimagesetz ist eine Kapitulation“, sagte etwa die zu der Zeit in Brüssel anwesende schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg. „Denn die Natur lässt sich nicht über den Tisch ziehen, und mit der Physik macht man keinen Deal.“

Digitale Aufholjagd Europas

In Sachen Digitalisierung erkannte von der Leyen Nachholbedarf für Europa. Die Kernidee ist dabei, Daten schneller fließen zu lassen, damit sie besser für Anwendungen mit künstlicher Intelligenz (KI) genutzt werden können. Globalen Tech-Giganten drohen nach Plänen der EU-Kommission künftig höhere Auflagen – und wie schon beim Datenschutz sind globale Auswirkungen wahrscheinlich. Binnenmarktkommissar Thierry Breton machte in einer Kampfansage im Februar deutlich: „Es sind nicht wir, die sich an heutige Plattformen anpassen müssen, es sind die Plattformen, die sich an Europa anpassen müssen.“

Um Europa für die Zukunftstechnik „fit“ zu machen, will die Kommission mehr Geld in die Hand nehmen. Die Investitionen in KI sollen nach ihren Plänen in diesem Jahrzehnt auf 20 Mrd. Euro pro Jahr steigen. Im Zukunftsgeschäft mit Daten soll nach Wunsch der Kommission ein einheitlicher europäischer Markt geschaffen werden. Er soll dazu beitragen, dass die heimischen Firmen weniger abhängig werden von Datensammlern wie Google, Facebook und Amazon.

Auf Samtpfoten zum Mindestlohn?

Im Schatten von Klimapolitik und Digitalisierung will von der Leyen auch noch ein Rechtsinstrument für einen fairen Mindestlohn in Europa vorschlagen. Zumindest Konsultationen dazu kündigte Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis im Jänner an. Jedoch, so scheint es, will man sich hierbei auf keinen Fall voreilig auf Glatteis begeben bzw. es sich mit den Mitgliedsländern nicht verscherzen.

Chinesische Flugpassagiere am Flughafen Fiumicino
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Fluggäste auf dem Airport in Rom tragen Masken zum Schutz vor SARS-CoV-2 – auch das Coronavirus ist eine Herausforderung für die EU-Kommission

Dombrovskis unterstrich, dass es weder um einen einheitlichen europäischen Mindestlohn gehe noch darum, die Mitgliedsstaaten zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu verpflichten. Im Sommer will die Kommission dann einen ausformulierten Gesetzesvorschlag vorlegen. Derzeit haben sechs EU-Länder keine gesetzlichen Mindestlöhne, darunter auch Österreich.

Gleichstellungsstrategie kurz vor Frauentag präsentiert

Weiters auf dem Plan stehen verbindliche Maßnahmen zur Geschlechtergleichstellung. Auch hierbei scheinen es die Verantwortlichen in der Kommission eilig zu haben. Am Donnerstag, also kurz vor dem Internationalen Frauentag am Sonntag, wurde daher eine Gleichstellungsstrategie vorgestellt.

Diese legt Maßnahmen für die nächsten fünf Jahre fest und verpflichtet sich zu gewährleisten, dass die Kommission die Gleichstellungsperspektive in alle Politikbereiche der EU einbeziehen wird. Zu den Maßnahmen zählen: Beendigung von geschlechtsbezogener Gewalt und Geschlechterstereotypen, Gewährleistung der gleichen Teilhabe und der gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, einschließlich des gleichen Entgelts, und Verwirklichung einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern in Entscheidungspositionen und Politik.

EU-Experte Emmanoulidis erkennt die Ansätze des Fahrplans der EU-Kommission deutlich. „Vor allem beim ‚Green Deal‘ und der Digitalisierung“, analysierte er im Gespräch mit ORF.at. „Da sieht man schon den Rahmen, was die strategischen Schwerpunkte sind. Aber die Frage ist natürlich, wie man das konkret umsetzt.“ Und bei allen guten Vorsätzen liege da auch schon das allbekannte Kernproblem. Die Kommission habe zwar die führende Rolle inne, aber sei letztendlich auch abhängig vom Europäischen Rat, von den Mitgliedsstaaten und nicht zuletzt von den Kompromissen, die mit dem Europäischen Parlament gefunden werden müssen.

Coronavirus und Menschenrechte als aktuelle Aufgaben

Die letzten Tage und Wochen zeigten aber auch sehr deutlich, dass es immer wieder Ereignisse gibt, mit denen EU-Politikerinnen und Politiker nicht gerechnet hatten. Aktuell sind das etwa das neuartige Coronavirus und die prekäre Lage an der türkisch-griechischen Grenze. In Sachen Coronavirus kann die EU-Kommission die Mitgliedsstaaten lediglich unterstützen – Gesundheitsmaßnahmen sind nationalstaatliche Angelegenheit. Dazu wurde ein Krisenstab eingerichtet, der den Mitgliedsstaaten mit Aufklärung, Prävention, aber auch in Sachen Mobilität und Wirtschaft beratend zur Seite steht. Dafür stellte die Kommission über 230 Millionen Euro für Maßnahmen gegen die Ausbreitung zur Verfügung.

Migranten an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei
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Von der Leyen forderte die Mitgliedsstaaten auf, das Asylrecht zu achten

Von der Leyen stellte in einer Rede am Montag außerdem Konjunkturhilfen in der Coronavirus-Krise in Aussicht. Es gebe grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Die eine sei Flexibilität bei den Schulden- und Defizitregeln. „Die andere ist Geld“, sagte die Kommissionspräsidentin. Auf EU-Ebene gehe es zudem um Ausnahmen von den staatlichen Beihilferegeln. Die EU-Kommission sei darüber in engem Kontakt mit den EU-Staaten und mit der Europäischen Zentralbank (EZB), sagte von der Leyen weiter. Man bereite das Treffen der EU-Finanzminister kommende Woche vor. Es gebe eine Koordination auf allen Ebenen. Die Frage, welchen Umfang ein Hilfspaket haben könnte, ließ sie offen.

AI: „Menschenverachtende Methoden“ an EU-Grenze

Für eine Bewältigung der angespannten Lage an der Grenze zur Türkei sagte von der Leyen Griechenland Unterstützung zu – 700 Mio. Euro, 350 Mio. mehr auf Abruf, 100 zusätzliche Beamtinnen und Beamten, Schiffe und Hubschrauber. Kritikerinnen und Kritiker fürchten jedoch um die Lage der Menschenrechte Schutzbedürftiger an den Grenzen. Amnesty International (AI) etwa kritisierte die „menschenverachtenden Methoden, mit denen die griechischen Behörden geflüchtete Menschen an der Einreise hindern wollen“, wie es in einer Aussendung heißt.

„Was es jetzt braucht, ist eine europäische Politik, die sich auf ihr Fundament besinnt: die Menschenrechte. Wir müssen gemeinsam auf internationaler Ebene humanitäre Lösungen vorantreiben“, forderte Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von AI Österreich. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte vor einer Woche erklärt, dass sein Land für Flüchtlinge seine Grenzen zur EU öffne – entgegen dem EU-Türkei-Abkommen („Flüchtlingspakt“). Griechische Sicherheitskräfte hinderten seitdem unter anderem mit dem Einsatz von Tränengas Zehntausende Menschen daran, über die Grenze zu kommen. Erdogan wird am Abend zu Gesprächen in Brüssel erwartet.

„Recht, um Asyl zu bitten, ist fundamentales Recht“

In ihrer Rede beschrieb von der Leyen das „tiefe Dilemma“, in dem sich die EU deshalb befinde. Die Geschehnisse würden eindeutig auf politisch motivierten Druck auf die EU-Außengrenzen hindeuten. Zugleich brauchten die Menschen, die an der Grenze ausharren, ebenso Hilfe wie Griechenland. Eine Lösung für diese Situation zu finden erfordere, den Druck von den Grenzen zu nehmen und zugleich das Recht, um Asyl zu bitten, zu respektieren, sagte von der Leyen. „Das Recht, um Asyl zu bitten, ist ein fundamentales Recht. Und es muss geachtet werden“, sagte sie in ihrer Rede. Zudem müsse Griechenland und der Türkei dabei geholfen werden. Griechenland hatte Asylverfahren für neue illegal Eingereiste zuletzt für einen Monat ausgesetzt.

Mit Blick auf die unbegleiteten Minderjährigen auf den griechischen Ägäis-Inseln bekräftigte von der Leyen, den Verletzlichsten müsse geholfen werde. Es sei dringend nötig, Menschen auf das europäische Festland zu bringen. Es gebe bereits positive Reaktionen auf ihren Appell von vergangener Woche an die EU-Staaten, etwa von Frankreich, Portugal, Luxemburg, Finnland und Deutschland.

„Nicht vorgesehen, als man die 100 Tage geplant hatte“

Mit aktuellen Herausforderungen hatten allerdings auch die vorherigen EU-Kommissionspräsidenten zu kämpfen, so EU-Analyst Emmanouilidis. „Wenn wir uns die letzten drei Kommissionen vor Augen führen, dann sehen wir, dass es am Ende des Tages Ereignisse waren, mit der sich die Kommission beschäftigen musste“, so der EU-Experte und nennt die Euro-Krise, die Flüchtlingskrise und den Ukraine-Konflikt als Beispiele. „Das sind Dinge, die auf die Agenda kommen, die man nicht vorgesehen hat, als man die 100 Tage geplant hatte“, so Emmanouilidis. Am Ende könnten es also das Coronavirus und die Situation an der griechisch-türkischen Grenze sein, an denen man die EU-Kommission messe: „Ob sie in der Lage war, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.“

Budgetkommissar Johannes Hahn
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Ohne Einigung kein Budget – Haushaltskommissar Johannes Hahn muss vermitteln, schließlich geht es um die Finanzierung von EU-Programmen

Alles hängt am EU-Budget

Bei allen langfristigen Plänen und kurzfristigen Reaktionen darf jedoch eines nicht vergessen werden: Es gibt immer noch kein EU-Budget. Der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) ist Emmanouilidis zufolge „der erste richtige Test“ der Kommission von der Leyens. Solange es dieses nicht gebe, dürfte es zunehmend schwieriger werden, Investitionen in sämtlichen Bereichen anzukündigen bzw. einzuplanen. Ein Diskussionspapier der EU-Kommission sieht 1,069 Prozent der Wirtschaftsleistung vor, wobei ein Budgetsondergipfel kürzlich gescheitert ist, da sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer nicht einigen konnten.

Dabei gehen einige Diplomatinnen und Diplomaten in Brüssel mittlerweile davon aus, dass eine Verzögerung der EU-Programme gar nicht mehr abzuwenden sei. Gelingt heuer keine Einigung mehr auf das EU-Mehrjahresbudget 2021–2027 wird die Obergrenze von 2020 im nächsten Jahr fortgeschrieben. Die Kommission müsste einen entsprechenden Notfallplan vorlegen, der dann wieder vom Rat und dem EU-Parlament beschlossen werden müsste. Das würde etwa bedeuten, dass etwaige EU-Programme nicht starten könnten.

Von der Leyen bestätigte diese Einschätzung in ihrer Rede, in der sie zu einem Kompromiss zur Finanzierung der Gemeinschaft aufrief. Die EU müsse auf die Lage der Flüchtlinge in Griechenland, Syrien und an der griechisch-türkischen Grenze ebenso antworten wie auf die Ausbreitung des Coronavirus und die wirtschaftliche Entwicklung, so die Kommissionspräsidentin. „Doch ohne ein neues Budget werden wir nicht in der Lage sein, darauf zu reagieren“, sagte von der Leyen. „Deshalb rufe ich die Mitgliedsstaaten dringend dazu auf, eine Einigung zu finden.“ Die Zeit sei schon sehr knapp.