Russischer Präsident Putin und türkischer Premier Erdogan
APA/AFP/Pavel Golovkin
Waffenstillstand in Idlib

Erdogan und Putin geben Einigung bekannt

Russlands Präsident Wladimir Putin hat im Konflikt um die Rebellenhochburg Idlib nach eigenen Angaben eine Einigung auf einen Waffenstillstand mit seinem türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan erzielt. Nach rund sechs Stunden sei ein gemeinsames Dokument entstanden, teilte Putin am Donnerstag nach dem Treffen mit Erdogan in Moskau mit.

Ein neuer Waffenstillstand trat kurz nach Mitternacht in Kraft. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte brachen allerdings trotz der Waffenruhe Kämpfe zwischen Regierungstruppen und ihren Gegnern aus. Dabei habe es im Osten der Region auf beiden Seiten Tote gegeben, die Rede ist von 15 Opfern. Die in Großbritannien ansässige regimekritische Beobachtungsstelle verfügt über ein dichtes Informantennetz in Syrien, ihre Berichte sind aber zumeist nicht sofort überprüfbar.

Neben der Waffenruhe wollen Russland und die Türkei einen „Sicherheitskorridor“ entlang einer wichtigen Verbindungsstraße einrichten. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte am Donnerstag in Moskau, dieser werde „sechs Kilometer tief im Norden und sechs Kilometer tief im Süden“ der Verbindungsstraße M4 in Nordsyrien etabliert. Man habe sich zudem auf gemeinsame Patrouillen ab dem 15. März in der Region geeinigt.

Die M4 ist eine wichtige Verbindungsstraße, die von der Regierungshochburg Latakia an der Mittelmeer-Küste im Westen des Landes über die Provinz Idlib Richtung der nordsyrischen Großstadt Aleppo führt. Weil sie strategisch wichtig ist, verfolgen die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad das Ziel, sie unter Kontrolle zu bringen.

Russischer Präsident Putin und türkischer Premier Erdogan
AP/Presidential Press Service
Putin und Erdogan berieten in Moskau über eine Lösung für die angespannte Lage in der nordwestsyrischen Provinz Idlib

Hunderttausende auf der Flucht

Eigentlich gilt in der Region bereits eine Waffenruhe. In den vergangenen Wochen war aber das syrische Militär mit russischer Unterstützung weiter in dem Gebiet vorgerückt. Hunderttausende Menschen fliehen derzeit vor den syrischen und russischen Angriffen in Richtung türkische Grenze.

Das Treffen zwischen Erdogan und Putin war angesichts der dramatischen Lage der Flüchtlinge in Idlib und der Gemengelage an der EU-Grenze mit Spannung erwartet worden. „Ich weiß, dass die Welt gerade zuschaut“, sagte Erdogan zum Auftakt. Er verwies auch auf die guten Beziehungen zwischen Russland und der Türkei. Sie seien „auf dem Höhepunkt“. Putin und Erdogan hatten in den vergangenen Wochen mehrfach über Idlib gesprochen. Trotzdem spitzte sich die Lage zu.

ORF-Korrespondentin Schneider berichtet aus Moskau

Welche Auswirkungen die Einigung hat, berichtet Carola Schneider aus Moskau.

Laut UNO noch drei Mio. Zivilisten im Kampfgebiet

Wegen der großen Zahl an Flüchtlingen kommen Hilfsorganisationen in kurzer Zeit kaum noch damit nach, die Menschen zu versorgen. Die Provinz Idlib ist eines der letzten Rebellengebiete in dem Bürgerkriegsland. Es halten sich nach UNO-Schätzungen aber auch rund drei Millionen Zivilisten in dem Gebiet auf.

Die Türkei schloss am Donnerstag nicht aus, auch ihre Südgrenze zu Syrien für Flüchtlinge aus Idlib zu öffnen. Sie könnten dann auch weiter in die EU gelangen, warnte Innenminister Süleyman Soylu. „3,5 Millionen Menschen in Idlib und an den türkischen Grenzen sind derzeit in Not.“

Vorsichtiger Optimismus in EU

Mehrere EU-Staaten begrüßten die Einigung. Zugleich zeigten sich die EU-Außenminister vor einem Krisentreffen am Freitag in Zagreb vorsichtig optimistisch, dass das Abkommen positive Auswirkung auf die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge in der Region haben könnte.

„Das ist zunächst einmal zu begrüßen, was da beschlossen worden ist zwischen Russland und der Türkei“, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas dem Deutschlandfunk. Ähnlich äußerte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell: „Natürlich bin ich froh über die Waffenruhe“, sagte der Spanier. Das sei eine Voraussetzung dafür, die humanitäre Hilfe in der Region zu erhöhen. ÖVP-Außenminister Alexander Schallenberg sprach von einem „vorsichtigen Hoffnungszeichen“. Es gehe allen darum, in Nordwestsyrien eine Situation zu erzeugen, in der die Menschen ein Minimum an Sicherheit hätten und so im eigenen Land bleiben könnten.

Borrell kündigte für Ende Juni in Brüssel eine Geberkonferenz für die Opfer des syrischen Bürgerkriegs an. Auch die Regierungen, die in den Konflikt involviert seien, sollten dazu eingeladen werden. Die europäischen Außenminister verurteilten die Öffnung der türkischen Grenze in Richtung Griechenland als inakzeptabel und warfen der Regierung in Ankara vor, Flüchtlinge für „politische Zwecke“ zu missbrauchen.

Direkte Konfrontation soll vermieden werden

Putin und Erdogan hatten sich auch in der Vergangenheit immer wieder abgestimmt – auch weil sie zwar unterschiedliche Lager unterstützen, aber eine direkte Konfrontation vermeiden wollen. Für die Türkei ist Russland vor allem in einigen zentralen Wirtschaftszweigen wie Erdgas ein wichtiger Partner.

Und Erdogan musste 2015 erfahren, dass eine Konfrontation der Türkei schwer schadet: Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei reagierte Russland mit Sanktionen, die die türkische Wirtschaft schwer trafen.

Sotschi-Abkommen nicht eingehalten

Die jetzige Eskalation der Lage in Syrien rührt auch daher, dass die Abkommen, die Russland und die Türkei eigentlich vereinbart hatten, nie vollständig umgesetzt wurden. So hatte man 2019 in Sotschi Deeskalationszonen beschlossen, darunter auch die Provinz Idlib. Doch die syrische Armee startete, unterstützt von der russischen Luftwaffe, vor rund einem Jahr ihre Offensive auf das letzte große Rebellengebiet, dominiert von Islamisten der Al-Kaida-nahen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS).

In den vergangenen Wochen rückten die Truppen von Präsident Assad immer weiter vor. Doch auch die Türkei konnte ihren Teil des Abkommens nicht einhalten: Man wollte die radikalen Milizen entwaffnen und vertreiben. Das passierte nicht, stattdessen kämpfen einige an der Seite der türkischen Truppen in Syrien.

Offensive in Syrien brachte Erdogan unter Druck

Der türkische Feldzug in Syrien bringt Erdogan auch innenpolitisch unter Druck. In den vergangenen Tagen hat die türkische Armee den syrischen Truppen zwar schwere Verluste zugefügt, doch auch selbst einen hohen Preis bezahlt: Mindestens 37 türkische Soldaten wurden innerhalb einer Woche getötet, insgesamt waren es seit Anfang Februar mehr als 50.

Auch die Kosten für die Offensive machen der Türkei zu schaffen. Und: Hunderttausende Zivilisten flohen vor den syrischen Truppen und den russischen Luftangriffen Richtung türkische Grenze. Geht Assads Offensive weiter, ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese die Grenze zur Türkei überwinden. Genau vor diesem Hintergrund ist auch die Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze zu sehen: Erdogan versuchte, mit Druck auf EU und Westen Unterstützung zu bekommen und so seine strategische Lage zu verbessern.