Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Engelmeier
Nach 34 Jahren

Der letzte Cliffhanger der „Lindenstraße“

Nach 1.758 Folgen ist am Sonntag endgültig Schluss: Seit 1985 lief die „Lindenstraße“ – und man muss kein Fan sein, um schon einmal von Mutter Beimer oder Else Kling gehört zu haben. Die TV-Serie wollte aber nie nur unterhalten. Als „Kind der 68er“ bezog sie immer auch Stellung zu brisanten Themen. Oft ihrer Zeit voraus, haftete zuletzt ein altbackenes Image an der „Lindenstraße“ – zu Unrecht.

„Zum Ende gibt die Lindenstraße echt alles“, „Gegen diese Folge kann der Tatort einpacken“ „Die Drehbuchautoren drehen nochmal voll auf. Hätten sie das mal früher gemacht…“ – auf der Facebook-Seite der „Lindenstraße“ ist sich die treue Fangemeinde in den vergangenen Wochen ungewohnt einig. Ob mehr Spannung und Drama in den letzten Jahren die Absetzung der ersten und am längsten laufenden deutschsprachigen Soap verhindert hätten, darüber kann aber nur spekuliert werden.

„Weil sie so ist, wie sie ist“

„Wirtschaftliche Zwänge“ gab die ARD im November 2018 als Grund für das Aus an. Hans W. Geißendörfer, der die „Lindenstraße“ 1985 nach dem Vorbild der britischen TV-Serie „Coronation Street“ anlegte, zeigte kein Verständnis für die Entscheidung: „Da steckt irgendetwas anderes dahinter, was ich nicht weiß.“ Er sei „zu lange dabei“, um zu glauben, dass es am Geld liege, mutmaßte der Erfinder der „Lindenstraße“ damals im „Tagesspiegel“.

Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Eckbert Reinhardt
Die wohl bekanntesten Figuren der „Lindenstraße“: Helga Beimer (Marie-Luise Marjan) und Else Kling (Annemarie Wendl)

Das Damoklesschwert sei schon länger über der „Lindenstraße“ geschwebt, so Götz Schmedes, für die Serie verantwortlicher Redakteur beim WDR, Ende Jänner im Gespräch mit dem „SZ-Magazin“. Man könne spekulieren, ob die Serie nicht fortgesetzt wird, weil sie zu teuer war oder „weil sie so ist, wie sie ist“.

„Laufende Leitartikel“

Doch wie ist sie, die „Lindenstraße“? Oder eher: Wie war sie? Dem Anspruch, aktuelle Debatten aufzugreifen, sind die Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren über die Jahrzehnte treu geblieben: Die Anti-Atomkraft-Bewegung der 1980er Jahre, die Wehrdienstverweigerung, die Legalisierung von Cannabis, religiöser Extremismus, aktive Sterbehilfe und – immer und immer wieder – Rechtsextremismus und Rechtspopulismus wurden in den Episoden thematisiert.

Die „Lindenstraße“, die bis 1998 auch jeden Sonntagabend im ORF lief, arbeitete sich in ihren mehr als 34 Jahren an so gut wie jedem zur jeweiligen Zeit aktuellen gesellschaftspolitischen Thema ab. Oft mit etwas zu viel pädagogischem Impetus – was ihr den Ruf einbrachte, ihre Charaktere seien „laufende Leitartikel“ –, oft etwas zu schablonenhaft.

„Die Serie bildet zwar manchmal Klischees ab, dass man schreien möchte, zerlegt sie aber auch zuverlässig im nächsten Moment wieder. Ein Stilmittel, das die wenigsten deutschen Serien beherrschen, genauso wie den leisen Humor“, schrieb die „Zeit“ vor einigen Jahren.

TV-Kuss mit Folgen

Als „Kind der 68er“ bezeichnet WDR-Redakteur Schmedes die „Lindenstraße“ im Gespräch mit dem „SZ-Magazin“: „Eine Serie würde heute zugespitzter und temporeicher erzählt und den Fokus mehr auf ein bestimmtes Thema lenken. Der Druck, gute Unterhaltung zu machen, ist größer. Das war hier nicht das primäre Ziel. Wir wollten immer auch etwas aussagen.“

Dieser Anspruch blieb nicht ohne Folgen: Als Carsten Flöter (gespielt von Georg Uecker) und Robert Engel (Martin Armknecht) sich im März 1990 in Folge 224 küssten, ging säckeweise Beschwerdepost in der Redaktion der „Lindenstraße“ ein. Beide Schauspieler erhielten anonyme Morddrohungen. „Das mit den Drohungen ging fast ein halbes Jahr lang. Gegen Ende stand ich einen Monat unter Personenschutz“, so Uecker in der „Berliner Zeitung“.

Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Diane Krüger
Georg Uecker und Martin Armknecht erhielten nach Ausstrahlung der Folge Morddrohungen

Etwa zur gleichen Zeit thematisierte die „Lindenstraße“ als erste deutschsprachige Fernsehserie HIV. „Logisch wäre gewesen, wenn einer der Homosexuellen an Aids stirbt. Aber es erwischte den heterosexuellsten Typen der Serie: Benno Zimmermann. Weil es jeden treffen kann. Typisch Geißendörfer“, so Castingchef Horst D. Scheel im Gespräch mit dem „SZ-Magazin“.

Die „Lindenstraße“ sei die „mutige Vorreiterin“ gewesen, „die Homosexualität ins deutsche Fernsehen brachte, ganz normal und ohne sie zu skandalisieren“, schrieb das Onlinemagazin Queer.de schon 2005.

„Das sind doch alles Faschisten“

„Die Freiheit, die wir hatten, solche Tabus erzählen zu dürfen“ sei in all den Jahren das Wichtigste gewesen, sagte Geißendörfer einmal. Und er nutzte diese Freiheit: 1988 ließ er etwa „Lindenstraßen“-Bewohnerin Chris Barnsteg schimpfen: „Gauweiler & Co., das sind doch alles Faschisten.“ Der CSU-Politiker Peter Gauweiler klagte daraufhin wegen Beleidigung – und verlor.

Obwohl es heute im Fernsehen kaum noch Tabus gibt – dafür haben nicht zuletzt Realityformate und Castingshows gesorgt –, vermochte die „Lindenstraße“ bis zuletzt zu polarisieren. Das zeigen auch die hitzigen Social-Media-Debatten der letzten Jahre zur Storyline um Transfrau Sunny und zum Einzug einer Flüchtlingsfamilie.

Fotostrecke mit 8 Bildern

Szene aus „Lindenstraße“
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Alles begann im Advent 1985 –  mit Hausmusik bei „Familie Beimer“
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Eckbert Reinhardt
„Mutter Beimers“ Antwort auf Probleme aller Art: Spiegeleier
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Thomas Kost
Schon 1997 und damit lange bevor gleichgeschlechtliche Ehen in Deutschland erlaubt waren, heiratete „Carsten Flöter“ (Georg Uecker, links) seinen Freund – man erhoffte sich Signalwirkung
Szene aus „Lindenstraße“
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Das Thema Rechtsextremismus und Rechtspopulismus behandelte die „Lindenstraße“ über die Jahrzehnte immer wieder
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Thomas Kost
Hana und Hans W. Geißendörfer (Mitte) 2019 bei der Eröffnung der „Sammlung Lindenstraße“ in der Deutschen Kinemathek
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Thomas Kost
Das allerletzte Foto des Ensembles der „Lindenstraße“ aus dem Jahr 2019
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Lindenstrasse
Einblick in den Dreh – und ins „Beimersche“ Wohnzimmer
Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Steven Mahner
Die Außenkulisse der „Lindenstraße“ auf dem Produktionsgelände des WDR in Köln

Und noch eine weitere Vorreiterrolle übernahm die „Lindenstraße“: Sie war die erste Serie im deutschsprachigen Fernsehen, in der Menschen mit Migrationshintergrund sich in ihrer Erstsprache unterhielten, zuletzt etwa die aus Tunesien geflüchtete Familie Bakoush. Und schon vor über 30 Jahren wurden bei Gesprächen der aus Griechenland eingewanderten Familie Sarikakis deutsche Untertitel eingeblendet.

Rowohlt, Schweiger, Schlingensief

Viele Zuschauerinnen und Zuschauer der „Lindenstraße“ sind Fans der ersten Stunde. Einige Schauspielerinnen und Schauspieler sind zusammen mit ihnen gealtert. Andere wurden vor dem Fernsehpublikum erwachsen. Klaus Beimer etwa, der in der allerersten Folge vom 8. Dezember 1985 mit Masern im Bett liegt und heute zum dritten Mal verheirateter Vater zweier Kinder und mäßig erfolgreicher Investigativjournalist ist.

Zu den Gaststars zählte allen voran der 2015 verstorbene Übersetzer und Kolumnist Harry Rowohlt. Er hatte von 1995 bis 2013 sporadische Auftritte als Harry, ein Obdachloser, der immer wieder in der Lindenstraße auftaucht. Das Angebot für diese Rolle bekam Rowohlt, weil er auf die Frage einer Zeitschrift nach seinem Lieblingsrestaurant das „Akropolis“ in der „Lindenstraße“ nannte.

Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Eckbert Reinhardt
Ab Sommer 2013 blieb Harrys Bank in der Lindenstraße leer

Til Schweiger startete 1990 seine Schauspielkarriere in der „Lindenstraße“ – als Jo Zenker. Und obwohl er nur zwei Jahre lang dabei war, tauchte er noch lange in Gesprächen seiner Familie auf: „der Jo, der ist ja jetzt in Hollywood“. Seine Rolle bezeichnete Schweiger unlängst in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ als „absolut blöd“. Er sei „nie ein ‚Lindenstraße‘-Fan“ gewesen.

Auch hinter der Kamera wirkten Menschen an der Serie mit, die später bekannt wurden. So war etwa der 2010 verstorbene Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief von 1986 bis 1987 Aufnahmeleiter der „Lindenstraße“.

Wiener Strizzis in München

In die in München spielende und in Köln gedrehte „Lindenstraße“ verschlug es auch immer wieder Österreicherinnen und Österreicher. Von Anfang an dabei war die Salzburgerin Andrea Spatzek. Ihre Figur Gabi Zenker, deren erste Textzeile „scheiß Männer“ lautete, musste einiges durchmachen: Ihr erster Mann Benno starb an Aids, ihr Sohn Max wurde entführt und ermordet, ihr Stiefsohn – gespielt von Schweiger – verliebte sich in sie.

Szene aus „Lindenstraße“
WDR/Diane Krüger
Anfang der 1990er Jahre: Verknallt in Stiefmutter Gabi (Andrea Spatzek)

2003 taucht auch Gabis Vater in der „Lindenstraße“ auf – gespielt von Heinz Marecek, der den charmanten Wiener Strizzi gab. Eine Rolle, auf die vor ihm schon Dietrich Siegl festgelegt war. Als Tennislehrer Stefan Nossek hatte der Wiener von 1985 bis 1988 zahlreiche Affären und verstrickte sich in kriminelle Machenschaften. Zuletzt stieß Valentin Schreyer zum Ensemble der „Lindenstraße“. Der Tiroler spielte seit 2012 den manisch-depressiven Ben Hofer.

Sonntagabend ruft man nicht an

Gesellschaftliche und politische Strömungen, eingebettet in das oft ganz banale Alltagsleben in einem Münchner Mehrparteienhaus – diese Mischung entpuppte sich in den 1980er Jahren als Erfolgsrezept. Zwölf Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer schalteten damals jeden Sonntagabend den Fernseher ein. Nicht selten wurde Montagfrüh im Büro, beim Greißler und im Stiegenhaus die Folge vom Vorabend besprochen.

„Als ich 1997 bei der ‚Lindenstraße‘ frisch als Autor angefangen hatte, hörte ich unfreiwillig im Bus das Telefonat einer Frau mit“, erzählte Michael Meisheit, einer der Drehbuchautoren im „Tagesspiegel“. „Empört sagte sie: ,Dann ruft die mich Sonntagabend um sieben an. Das macht man doch nicht: während der ,Lindenstraße‘ anrufen.’“

Mehr als nur „Familie und Keksebacken“

Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Dutzende TV-Sender und eine unüberschaubare Menge an Onlineangeboten kamen seither hinzu. 2,5 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer hatte die „Lindenstraße“ in den letzten Jahren, dazu kamen Abrufe über Mediatheken, Livestream und App. Die so dringend benötigten neuen und jüngeren Zielgruppen konnten kaum erreicht werden.

„Wir haben bei vielen leider einen altbackenen Ruf“, so Schauspieler Arne Rudolf, der erst 2017 zum Ensemble der „Lindenstraße“ stieß, im Gespräch mit dem „SZ-Magazin“: „Ich spiele jetzt einen Pädophilen. Wenn ich Freunden davon erzähle, fragen die: ,Sowas macht ihr? Ich dachte, da geht es nur um Familie und Keksebacken!’“

Am Sonntag soll es – obwohl es die letzte Folge ist – wie seit über 34 Jahren einen Cliffhanger geben. So viel verriet Geißendörfer im Vorhinein. „Ein Cliffhanger, bei dem viele Spekulationen möglich sind. Der eine oder andere wird danach sagen: Es klingt fast so, als wäre es noch nicht das Ende." Passend dazu lautet der Titel von Folge 1.758: „Auf Wiedersehen“.