Sicherheitskraft mit Atemmaske
Reuters/Paul Childs
Trotz Kurswechsels

Britischer Coronavirus-Plan als Bumerang

Bisher schien der Zugang der britischen Regierung zum Coronavirus geradezu fahrlässig entspannt. Unter Berufung auf waghalsige Thesen zur Herdenimmunität verordnete man der Bevölkerung: „Keep calm and carry on“ – „Ruhig bleiben und weitermachen“, der Wirtschaft zuliebe. Doch jetzt steht Großbritannien erst recht vor einem ökonomischen Notfall, noch bevor der medizinische überhaupt eingetroffen ist.

Wenn es ans Oberlippe-steif-Halten in Krisenzeiten geht, muss man in Großbritannien nie lange auf Analogien zum Zweiten Weltkrieg warten. „Keep smiling through“, zitierte die Veteranin Vera Lynn am Dienstag ihren eigenen berühmten Battle-of-Britain-Schlager „We’ll Meet Again“ gegenüber dem Boulevardblatt „The Sun“. „Auch wenn wir als Personen isoliert sind“, ließ die 102-Jährige ihrem vom Coronavirus gefährdeten Publikum ausrichten, „können wir im Geiste doch immer noch vereint sein.“

Doch jene alten Durchhalteparolen klingen dieser Tage im besten Fall hohl und schlimmstenfalls höhnisch, schließlich steht das britische Gesundheitssystem, gar nicht zu reden von der Pflege für alte und behinderte Menschen, schon vor dem hierzulande verzögerten Seuchenausbruch chronisch an der Kippe.

Passant mit Atemmaske in London
Reuters/Hannah McKay
Über 100 Menschen sind in Großbritannien bereits am Coronavirus gestorben

Regierung musste zurückrudern

Die erst vergangene Woche noch als Konsens von Expertinnen und Experten präsentierte, gewagte Idee, durch eine frühe Infektion des gesunden, jüngeren Bevölkerungsanteils „Herdenimmunität“ zu erreichen, war bis Sonntagabend schon wieder vom Tisch. Eine Studie des Imperial College London hatte ergeben, dass diese darwinistische Strategie nach konservativen Schätzungen zu 250.000 Toten führen würde.

Nachdem die Regierung vergangene Woche beschloss, entgegen der Empfehlungen der WHO nur noch an Spitalspatientinnen und -patienten mit Symptomen Coronavirustests durchzuführen, gibt es über die Ausbreitung des Virus in Großbritannien längst keinen verlässlichen Überblick mehr. Einzig aus den bisherigen Opferzahlen lassen sich Rückschlüsse ziehen: Am Samstag waren es noch 21 Tote, bis Montagabend bereits 71. Mittwochnachmittag lag die Zahl laut Medien bei 104.

Späte Ratschläge und Aufrufe

Nach Wochen der vorgeblich wissenschaftlich begründeten Untätigkeit erteilte Premier Boris Johnson der Bevölkerung erst am Sonntagabend den Ratschlag, nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben. Doch selbst wenn dieser Kurswechsel die Seuche erfolgreich eindämmen sollte, droht dem National Health Service (NHS) eine schier unbewältigbare Aufgabe. Denn nach den Einsparungen der vergangenen Jahre verfügt das britische Gesundheitssystem bloß über rund 5.000 Intensivbetten, und selbst im allerbesten prognostizierten Fall werden mehr als doppelt, im schlimmsten etwa 40-mal so viele vonnöten sein.

Der britische Premier Boris Johnson
Reuters/Hannah McKay
Premier Johnson rief erst am Sonntag die Bevölkerung dazu auf, zu Hause zu bleiben

Deshalb werden jetzt sämtliche „nicht dringliche“ Operationen in Großbritannien abgesagt und Operationssäle zu improvisierten Intensivstationen umgebaut. Umso besorgniserregender wirkte am Sonntag ein abenteuerlicher Aufruf der Regierung an alle Betriebe, so schnell und so viel wie möglich Beatmungsgeräte herzustellen, falls sie sich dazu imstande sähen. Hätte man daran nicht schon vor Monaten denken müssen?

Schulen werden doch geschlossen

Bis Mittwochabend hieß es, die Schulen bleiben geöffnet – unter dem Argument, dass sich ansonsten gefährdete Großeltern um die Kinder kümmern müssten. Dabei ist auch im alltäglichen Normalfall oft die Großelterngeneration für die Abholung der Enkel aus der Virenschleuder Schule zuständig.

Die gern unter den Teppich gekehrte Tatsache, dass für drei Millionen Schulkinder aus verarmten Haushalten das in britischen Schulen gängige Mittagessen die einzige Mahlzeit des Tages darstellt, mag dabei unterschwellig eine Rolle spielen. Weit weniger verständlich ist allerdings, dass ich als Vater einer schulpflichtigen Tochter noch am Mittwoch per E-Mail die Nachricht erhielt, das Fernbleiben von Kindern aus gesund erscheinenden Haushalten gelte weiterhin als unentschuldigt.

Am Mittwochabend folgte dann der nächste Rückzieher: Johnson verkündete, dass die Schulen mit Freitag, spätestens mit Montag, geschlossen werden und nur Betreuungsmöglichkeiten für Notfälle anbieten.

Empfehlung fällt Unternehmen in den Rücken

Doch selbst wenn es bisher die Absicht der Regierung Johnson war, mit ihrem erstaunlich laxen Zugang ein möglichst uneingeschränktes Wirtschaftsleben über die Verhinderung des medizinischen Notfalls zu stellen, ist auch diese Taktik mittlerweile fatal nach hinten losgegangen. Denn der Umstand, dass der Premier statt Vorschriften nur Empfehlungen erteilt, hat den Einzelhandel, die Gastronomie, die Hotelerie, die Museen sowie die Theater-, Kino- und Konzertbranche in eine unmögliche Lage gebracht: Während das Geschäft ausbleibt, gibt es mangels Vorschrift zur Schließung auch keine Ausfallshaftung für versicherte Betriebe.

Keine Hilfe für Arbeitnehmer

Am Dienstag zog daher der Schatzkanzler Rishi Sunak ein umgerechnet rund 350 Milliarden schweres Paket an Hilfsmaßnahmen aus dem Hut, das Firmen kurzfristige Darlehen, Zuschüsse und ein dreimonatiges Aussetzen der Gewerbesteuern verspricht. Er werde in den nächsten Tagen noch weiter gehen, meinte Sunak.

Grundsätzlich werde die Regierung „alles tun, was es braucht“, um die Bevölkerung vor finanzieller Unbill zu bewahren. Doch mit Ausnahme einer dreimonatigen Stundung der Hypothekenraten für Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer enthielt der von Sunak präsentierte Maßnahmenkatalog keinerlei Hilfe für von Entlassung oder Verdienstentgang betroffene Individuen und Familien.

Soziales Netz durchlöchert

Noch investieren die Britinnen und Briten ihr verbleibendes Flüssiges in Hamsterkäufe in den Supermärkten, die mittlerweile den Verkauf von Lebensmitteln in Eigenregie rationieren. In Filialen der Ketten Sainbury’s und Asda dürfen Kundinnen und Kunden höchstens drei idente Artikel kaufen – seien es nun Klopapier, Nudeln oder Suppendosen.

Es ist allerdings auch bloß eine Frage der Zeit, bis der Kundschaft mit der Verbreitung des Virus auch das Geld zum Hamstern ausgeht. Denn für Angestellte, die sich krankschreiben lassen, liegt die gesetzlich vorgeschriebene Krankenstandsfortzahlung in Großbritannien bei schockierend geringen 100 Euro die Woche.

Und selbst das sind immerhin noch 100 Euro mehr als jenen Millionen Britinnen und Briten zusteht, die in vergangenen Jahren mit dem Vorrücken der sogenannten Gig economy in Scheinselbstständigkeit und Nullstundenverträge getrieben wurden. Nach einer vollen Dekade des Rückbaus des einst so vorbildlichen britischen Wohlfahrtsstaats gibt es längst kein nennenswertes Sozialnetz mehr, das sie in ihrer Not auffangen könnte.

Temporäres Grundeinkommen gefordert

Mit ihrem Hilfspaket für die Wirtschaft musste die konservative Regierung bereits ein gutes Stück über ihren eigenen ideologischen Schatten springen. Ungehört verhallte dagegen der dringende Ruf von David Camerons ehemaligem Handelsstaatssekretär Jim O’Neill sowie des Ex-Labour-Chefs Ed Miliband nach der temporären Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens.

Dabei scheint ein radikaler Schritt dieser Art mit jedem Tag immer unausweichlicher, wenn schon nicht aus Menschlichkeit oder zur Wahrung des sozialen Friedens, dann aus simpler Logik: Denn was sollte es bringen, die Bevölkerung einerseits vor dem Coronavirus zu bewahren und sie andererseits in Obdachlosigkeit und Hunger zu stürzen? Eine Frage, die sich nicht bloß in Großbritannien stellt.