Menschenmenge vor einem Kaffeehaus in Amsterdam
Reuters/Jan von Dasler
Herdenimmunität

Niederlande machen nach Kritik Rückzieher

Ähnlich wie Großbritannien haben auch die Niederlande im Kampf gegen das Coronavirus zunächst die umstrittene These der Herdenimmunität verfolgt. Nach heftiger Kritik – auch die WHO warnte zuletzt vor der Idee – ruderte Premier Mark Rutte letztlich zurück. Restriktive Maßnahmen wie Ausgangssperren oder Geschäftsschließungen lehnt er aber weiterhin ab.

Bei der Gruppen- oder Herdenimmunität geht es darum, dass immer mehr Menschen eine Erkrankung überstehen und dann gegen erneute Infektionen mit dem Virus gefeit sind. Zum Schutz von alten Personen sowie solchen mit Vorerkrankungen – die sich inzwischen so gut wie möglich isolieren sollen – „sollen“ sich vor allem die jungen und widerstandsfähigen Bevölkerungsgruppen anstecken, so die Strategie.

Rutte hatte erst am Montag erklärt, ein großer Teil der Bevölkerung werde sich nach Einschätzung von Experten infizieren. „Und sie (die Experten) sagen uns auch, dass wir in Erwartung eines Impfstoffs oder eines Medikaments die Verbreitung des Virus abbremsen und zugleich kontrolliert eine Gruppenimmunität aufbauen können.“ Das könne aber viele Monate dauern.

Ellbogenbegrüßung zwischen dem niederländischen Gesundheitsminister Bruno Bruins und Premierminister Mark Rutte
APA/AFP/ANP/Remko de Waal
Mark Rutte (rechts, neben dem nun zurückgetretenen Minister für Gesundheitsversorgung Bruno Bruins) sorgte mit seinen Aussagen zur Herdenimmunität zuletzt für Verwirrung

Warnung vor „italienischen Zuständen“

Politiker der Opposition warfen dem liberal-konservativen Premier daraufhin vor, für Unruhe unter der Bevölkerung zu sorgen. „Viele Niederländer fühlen sich, als seien sie Teil eines großen Experiments“, sagte der Vorsitzende der Sozialdemokraten (PvdA), Lodewijk Asscher. Auch die WHO hält die These für riskant. Man wisse noch zu wenig über das Virus, so die WHO-Sprecherin Margaret Harris. „Wir können über Theorien reden, aber im Moment stehen wir wirklich vor einer Situation, in der wir uns mit Taten beschäftigen müssen.“

In den Niederlanden könne es zu „italienischen Zuständen“ kommen, warnte daraufhin der Mikrobiologe Roel Coutinho in der „Süddeutschen Zeitung“. Für den Aufbau von Herdenimmunität müsste beim Coronavirus mehr als die Hälfte der Bevölkerung immun werden – mehr dazu in science.ORF.at. Das wären mehr als zehn Millionen Menschen in den Niederlanden.

Derzeit verfügen die Niederlande jedoch nur über 575 „Coronavirus-Betten“ auf Intensivstationen. Experten rechnen mit einem starken Anstieg der Zahl der Coronavirus-Patienten auf Intensivstationen. Bereits kommende Woche könnten es zwischen 500 und 1.000 sein, so die Vereinigung für Intensivmedizin.

Regierung versucht zu beruhigen

Der Premier versuchte daraufhin zu beruhigen: Seine Äußerungen seien missverstanden worden, Immunität durch Ansteckungen sei nicht das Ziel, sondern ein ganz normaler „Nebeneffekt“, wehrte sich Rutte. Von einer „absichtlichen Infektion“ könne nicht die Rede sein, da die niederländischen Maßnahmen sich kaum von jenen in Belgien oder Frankreich unterscheiden würden, betonte er am Donnerstag.

Auch die Behörde für Öffentliche Gesundheit und Umweltschutz (RIVM) erklärte, das Gruppenimmunität nur als „zusätzlicher Schutz“ betrachtet werden könne, man bleibe – wie der Rest der Welt – abhängig von der Verfügbarkeit eines Impfstoffes. Beim RIVM hieß es zuvor noch, die Strategie bestehe darin, Gefährdete so stark wie möglich zu beschützen, dafür zu sorgen, dass Krankenhäuser nicht überfordert sind und zugleich zuzulassen, dass stärkere Gruppen Immunität aufbauen.

Der Minister für Gesundheitsversorgung Bruno Bruins trat unterdessen zurück. Der 56-Jährige war für den Kampf gegen die Coronavirus-Epidemie zuständig und am Mittwoch im Parlament kollabiert. Er sei nach Wochen harter Arbeit ohnmächtig geworden, sagte er später.

Strategie soll Wirtschaft schützen

Wenngleich die niederländischen Maßnahmen jenen ihrer Nachbarländer zum Teil ähneln, so sind diese nach wie vor weniger restriktiv. Die Regierung in Den Haag ist klar gegen Ausgangssperren und das Schließen von Geschäften, wie Rutte am Donnerstag erneut bekräftigte.

Zwar ist das niederländische Modell laut Rutte fast so streng wie in anderen europäischen Ländern – Schulen, Bars und Restaurants sind etwa seit Sonntag geschlossen, größere Menschenansammlungen verboten sowie Grenzen für Nicht-EU-Bürger dichtgemacht – doch sei er gegen einen vollständigen „Lockdown“ etwa von Geschäften oder anderen Dienstleistungsbetrieben. Das ziehe eine zu starke Schwächung der Wirtschaft nach sich.

Striktere Maßnahmen nicht ausgeschlossen

Führe man tatsächlich weitreichende Beschränkungen ein, müsse man diese so lange aufrechterhalten, bis es einen Impfstoff gibt, erklärte Rutte laut der niederländischen Zeitung „de Volkskrant“. Denn würden etwa Ausgangssperren gelockert, käme es sofort wieder zu einem rasanten Anstieg der Infektionen. Grundsätzlich behalte er sich aber vor, striktere Maßnahmen einzuführen, so diese notwendig sind und beispielsweise Krankenhäuser unter Druck geraten.

Dessen ungeachtet bereitet sich die niederländische Polizei auf die Möglichkeit einer landesweiten Ausgangssperre vor. Sollte die Regierung einen „Lockdown“ anordnen, werde die Polizei als „starker Arm“ des Gesetzes auftreten, sagte der Coronavirus-Koordinator der nationalen Polizeibehörde, Max Daniel, im Fernsehsender NOS. Rutte sorgte indessen auch mit einer Aussage zu Klopapier für Gesprächsstoff: „Wir haben so viel, wir können zehn Jahre kacken“, sagte er vor laufenden Kameras beim Besuch eines Supermarktes. Das Video machte umgehend die Runde in den Sozialen Netzwerken.

Einen recht laschen Kurs im Kampf gegen das Coronavirus hatte zuvor auch die britische Regierung verfolgt. Bis Sonntag verfolgte man dort ebenso die Idee der Herdenimmunität. Die Kehrtwende in London überrascht kaum: Eine Studie des Imperial College London hatte ergeben, dass die Strategie nach konservativen Schätzungen zu 250.000 Toten führen würde. London wollte mit dem Kurs – ebenso wie Den Haag – die Wirtschaft schützen.