Bob Dylan
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Monumentaler Song

Bob Dylan in der Dauerschleife

Am letzten Freitag gab es eine Überraschung für alle Fans des Musikers und Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan. Er veröffentlichte mit „Murder Most Foul“ den ersten neuen Song nach acht Jahren Pause. Mit siebzehn Minuten, 152 Versen und 1.370 Wörtern ist es sein monumentalstes Lied und die ultimative Playlist für unsichere Zeiten.

Bob Dylan hat einen unendlichen Song geschrieben. Nicht nur, weil sein am 27. März veröffentlichtes „Murder Most Foul“ mit 16:57 Minuten das längste Lied seiner sechs Jahrzehnte währenden Karriere ist, sondern weil diesem die Unendlichkeit eingeschrieben wurde: Der letzte Vers endet mit den Worten „play ‚Murder Most Foul’“.

Kaum ist man am Ende dieses sparsam instrumentierten und hypnotisierenden Sprechgesangs angelangt, wird man aufgefordert, wieder von vorne zu beginnen. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Song, das Rad der Zeit hat sich geschlossen.

„Murder Most Foul“ ist ein Zitat aus „Hamlet“, einem Theaterstück, das ebenfalls mit der zirkularen Form spielt. Ganz am Ende von Shakespeares längstem Drama bittet der sterbende Prinz von Dänemark seinen Freund Horatio, am Leben zu bleiben, um seine Geschichte zu erzählen. „The Tragical History of Hamlet, Prince of Denmark“ kann als Ergebnis dieser Bemühung gelesen werden.

Leben, um zu erzählen

Mit Hamlets Aufforderung „tell my story“ beginnt also alles wieder von vorne. Wäre man tatsächlich in diesem Kreislauf gefangen, wäre „Hamlet“ wohl dicht genug, um Lesestoff für ein ganzes Leben zu bieten. Ähnlich geht es einem mit Dylans „Murder Most Foul“.

Der potenziell unendliche Text gebiert sich wie ein Füllglas, in das die ganze Geschichte Amerikas geleert wurde, vor allem dessen Musikgeschichte: Über 75 Songs werden erwähnt – von Musikern wie beispielsweise Joni Mitchell, Joan Baez, Wanda Jackson, Elvis Presley, Little Richard, Burt Bacharach, Billie Holiday, Patsy Cline, Ray Charles, Billy Joel, Etta James, Marilyn Monroe, Nina Simone, The Eagles, Stan Getz, Thelonious Monk, Ella Fitzgerald, Stevie Nicks, Miles Davis und Woody Guthrie.

Die Ermordung John F. Kennedys

Ausgangspunkt der Reise ist die Ermordung John F. Kennedys, an einem „dunklen Tag in Dallas, November ’63“. Dylan nähert sich dieser traumatischen Erfahrung Amerikas von verschiedenen Seiten, scheut nicht vor Verschwörungstheorien zurück und wechselt schließlich sogar in die Perspektive des Präsidenten selbst.

„The day they blew out the brains of the king“ ist der Tag, an dem Amerika seine Unschuld verlor und der Untergang des Landes begann, der seitdem nicht aufgehalten werden konnte. Kennedy hier als „king“ zu bezeichnen verweist auf den ermordeten König in „Hamlet“, der als Geist seinen eigenen Tod als „murder most foul“ bezeichnet, was in der Übersetzung August Wilhelm Schlegels zu einem weniger eindringlichen „schnöden, unerhörten Mord“ wird.

Bereits am 22.11.1963 weiß Dylan, dass dieser Tag eine Weichenstellung der Geschichte ist, eine Kreuzung wie im „Cross Road Blues“, in dem ein Sänger namens „Bob“ dem Teufel seine Seele verkauft. Dylan hält fest: „Das Zeitalter des Antichristen hat erst begonnen.“

Ein Kommentar zu Coronavirus und Trump?

Wenn die Zeit des Bösen allerdings 1963 begonnen hat, wo stehen wir dann heute? Vielleicht war es diese Frage, die Bob Dylan bewog, „Murder Most Foul“ gerade jetzt zu veröffentlichen. Garniert mit ein paar persönlichen Zeilen, stellte Dylan den Song letzten Freitag online, er dankt seinen Fans für ihre langjährige Loyalität und schließt mit „Bleiben Sie sicher, bleiben Sie aufmerksam“. Damit äußert sich Dylan so deutlich zur Aktualität wie seit seinen Anfangsjahren als Protestsänger nicht mehr.

Ein Geschenk für die Ausgangssperre

Vielleicht wollte er auch nur seinen treuen Anhängern Beschäftigung für die durch das Coronavirus bedingte Zeit zu Hause geben. Denn die weltweite Gemeinschaft der Dylanologen wird sich noch lange nach Aufhebung der Ausgangssperre in freiwilliger Isolation befinden, um all die Rätsel zu entwirren, die ihr Meister in diesen Song eingearbeitet hat.

Auch Dylan selbst trifft das Zuhausebleiben schwer, er musste seine „Never Ending Tour“ unterbrechen, die ihn seit 1988 immer wieder rund um den Globus führt. Seine Japan-Auftritte wurden gestrichen, und die Amerika-Tournee ab 4. Juni steht in den Sternen.

Während andere Musiker die Zeit der Quarantäne nützen, um vom Küchentisch aus Konzerte zu streamen, veröffentlichte Dylan also völlig unerwartet den monumentalsten Song seiner Karriere. „Murder Most Foul“ ist dabei nicht ganz neu, wurde „vor einer Weile aufgenommen“, wie er schreibt. Im Lied selbst sagt er, dass man seit fünfzig Jahren nach den Gründen der Ermordung Kennedys suche, was auf eine Entstehung in der Zeit um 2013 hindeutet.

Immer wieder Shakespeare

2012 erschien „Tempest“, das bis dato letzte Album mit originalen Liedern von Dylan, seitdem gab es nur noch Coverversionen. Wahrscheinlich stammt „Murder Most Foul“ also aus dieser Periode, wobei der Titel „Tempest“ auch auf Shakespeare verweist, nämlich auf „Der Sturm“ von 1611.

Das ist nicht zufällig, zieht Dylan doch in seiner Nobelpreisrede selbst Parallelen zu dem großen englischen Barden und behauptet: „Was ich in den Songs versucht habe, ist ungefähr das, was Shakespeare im Theater versucht hat.“ Vielleicht handelt es sich bei diesen Versuchen darum, die Unendlichkeit aller Dinge in einem endlichen Text festhalten zu können.

Statue von William Shakespeare’s Hamlet
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Shakespeares grübelnder Hamlet und Bob Dylans Monumentalsong „Murder Most Foul“ sind Kunstwerke, die versuchen, die Unendlichkeit zu bändigen

Das Plattencover von „Tempest“ ziert eigenartigerweise eine Figur vom Brunnen vor dem Wiener Parlament, woran sich die Dylanologen bis heute die Zähne ausbeißen. Im neuen Song gibt es keine Österreich-Bezüge mehr, zu sehr geht es um die Aufarbeitung der amerikanischen Geschichte.

Listen für die Unendlichkeit

Wenn sich „Murder Most Foul“ nach und nach von seinem anfangs gewählten Thema verabschiedet, gewinnt es auf geheimnisvolle Weise immer mehr Energie und erreicht einen Höhepunkt, als kurz nach der Hälfte des Songs der legendäre DJ Wolfman Jack aufgefordert wird, Lieder zu spielen.

Ab nun beginnt jeder Vers mit dem Wort „Play“, und es entsteht eine der eindrucksvollsten Listen der Literaturgeschichte. Nur die ganz großen Schreibenden schaffen es, aus der unendlichen Welt Listen zu generieren, die für sich selbst und gleichzeitig für das Universum stehen können. Jorge Luis Borges‘ Aufzählungen in der Erzählung „Das Aleph“ sind das unerreichte Beispiel dafür. Von nun an kann man auch auf Dylan verweisen.

Und dann gibt es doch noch einen Wien-Bezug, wunderbar zum Beethoven-Jahr 2020 passend: „Play Moonlight Sonata in F-sharp“, bittet Dylan den DJ. Der Soundtrack für die untergehende Welt wäre ohne Beethoven nicht vollständig. Dass die Mondscheinsonate in Wirklichkeit in cis-Moll ist, sei verziehen, denn „c-sharp minor“ hätte nicht einmal Bob Dylan mit dem „king on the harp“ der nächsten Zeile reimen können.