Streetart mit einem Porträt von Großbritanniens Premierminister Boris Johnson in „Uncle Sam“-Pose, daneben eine Frau mit Mundschutz
Reuters/Hannah Mckay
Coronavirus

Kritik an Johnsons Krisenmanagement hält an

Der britische Premierminister Boris Johnson schaltet sich nach seiner überstandenen Covid-19-Erkrankung wieder kräftig in die Regierungspolitik ein – das könnte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die Kritik an der Regierung bei der Bekämpfung der Pandemie immer lauter wird. Denn egal ob Schutzausrüstung, Klinikpersonal, Beatmungsgeräte, Testungen oder aussagekräftige Statistiken – in Großbritannien scheint es an allem zu fehlen.

Johnson habe mit Außenminister Dominic Raab, der ihn teilweise vertritt, und weiteren Mitarbeitern am vergangenen Freitag ein dreistündiges Gespräch per Videocall gehabt, berichtete die Zeitung „Sunday Telegraph“. Bereits zuvor habe er mehrmals von seinem Landsitz Chequers aus Anweisungen gegeben. Nach Regierungsangaben vom Samstag hatte Johnson „einige Kontakte“ mit Kabinettsmitgliedern gehabt, das genaue Ausmaß wurde aber nicht genannt. Er halte sich an die Anweisungen seines Arztes, hieß es.

Dass sich Johnson wieder so schnell in die Regierungsgeschäfte einmischt, soll an der zunehmenden Kritik an dem Krisenmanagement der Regierung liegen: Nach einem Bericht der „Sunday Times“ war zu Beginn des Ausbruchs wochenlang der Ernst der Lage in Großbritannien nicht erkannt worden. Man habe sich stattdessen zu sehr auf den Brexit konzentriert.

Krankenpersonal und Patient auf einem Krankenbett im Aintree University Hospital, Liverpool
Reuters/Phil Noble
Die Regierung habe den Ernst der Lage unterschätzt und Warnungen der Wissenschaft ignoriert, so die Kritiker

Medien: Johnson fehlte bei wichtigen Pandemiesitzungen

Johnson fehlte der „Times“ zufolge auch bei fünf wichtigen Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats (Cobra) zur Pandemie: „Johnson verpasste fünf Treffen zum Thema Virus, Aufrufe zur Bestellung von Schutzausrüstung wurden ignoriert, und die Warnungen der Wissenschaftler stießen auf taube Ohren. Fehler im Februar haben möglicherweise Tausende von Menschenleben gekostet“, schrieb die „Times“.

Auch der neue Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, Keir Starmer, warf der Regierung in einem Gastbeitrag in der „Mail on Sunday“ vor, bei der Einführung von Eindämmungsmaßnahmen und der Beschaffung von notwendigem medizinischen Material „zu langsam“ gewesen zu sein. Fehler dürften sich nun „nicht wiederholen“, schrieb Starmer.

Staatsminister und Vizepremier Michael Gove sagte dem Sender Sky News am Sonntag, die Vorwürfe seien „grotesk“. Johnson habe die „Lage absolut im Griff“ und einen guten Überblick über die Regierungsgeschäfte, sagte Gove. Und: „Niemand kann sagen, dass der Premierminister sich nicht mit Leib und Seele in den Kampf gegen das Virus gestürzt hat.“ Die Regierung arbeite unter Hochdruck daran, Großbritannien mit ausreichender medizinischer Schutzausrüstung zu versorgen.

Mangel an Schutzausrüstung, Geräten und Klinikpersonal

In den britischen Kliniken werden Ausrüstungen zum Schutz gegen das Coronavirus bedrohlich knapp – auch die für Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegepersonal empfohlenen langärmeligen, flüssigkeitsabweisenden Einwegkittel auf vielen Intensivstationen. Daher haben die Behörden auch die Verwendung anderer Kittel erlaubt.

Das stieß am Wochenende auf heftige Kritik unter anderem von Gewerkschaften. Sie befürchten ein erhöhtes Ansteckungsrisiko für Ärzte und Pfleger. Ein Lichtblick: Aus der Türkei wurden 84 Tonnen an Schutzausrüstungen in Großbritannien erwartet – sie reichen Kritikern zufolge aber nur für drei Tage. Im Vereinigten Königreich mangelt es auch an Klinikpersonal und Beatmungsgeräten für Covid-19-Patienten. Sauerstofflieferungen für die Beatmung gehen Ärzten zufolge ebenfalls zurück.

Sanitäter mit Mundschutz desinfizieren den Innenraum eines Krankenwagens
APA/AFP/Daniel Leal-Olivas
Gewerkschaften befürchten aufgrund des Mangels an Schutzausrüstung ein erhöhtes Ansteckungsrisiko für Gesundheitspersonal

Wenig aussagekräftige Statistiken, wenige Testungen

Die Statistiken zu Infizierten und Todesfällen gelten als wenig aussagekräftig, unter anderem weil in Großbritannien im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bisher wenige Tests vorgenommen worden sind. Zudem umfassen die Statistiken nur Todesfälle in Krankenhäusern. Wer zu Hause oder im Heim an Covid-19 stirbt, wird nicht registriert.

Am Samstag veröffentlichte Schätzungen des britischen Branchenverbands der Pflegeheime zufolge könnten allein in diesen Einrichtungen zwischen 4.000 und 7.500 Menschen durch eine Coronavirus-Infektion gestorben sein.

Experten befürchten europaweit höchste Sterbequote

Offiziell sprach die Regierung in London am Samstag von mehr als 16.000 Coronavirus-Toten im Königreich. Allein innerhalb von 24 Stunden seien 888 weitere Todesfälle in den Krankenhäusern registriert worden. Damit ging die Zahl der neuen Todesfälle wieder nach oben. Experten und Expertinnen befürchten, dass Großbritannien mit Blick auf die Sterbequote das am schlimmsten betroffene Land in Europa werden könnte.

Die britische Regierung hatte am Donnerstag eine Verlängerung der am 23. März verhängten Ausgangssperre um mindestens drei Wochen beschlossen. Raab sagte nach den Beratungen mit seinen Ministerkollegen, es sei noch zu früh, sich zu Ausstiegsszenarien zu äußern.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson
Reuters/No 10 Downing Street/Pippa Fowles
Eine Woche nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus geht es dem an Covid-19 erkrankten Johnson „deutlich besser“

Johnson „erholt sich gut und ist gut gelaunt“

Auch Johnson selbst wurde Ende März positiv auf das Coronavirus getestet und musste Anfang April auf der Intensivstation einer Londoner Klinik behandelt werden. Seit einigen Tagen erholt er sich nun auf dem Landsitz Chequers in der Nähe der Hauptstadt. An seiner Seite ist seine schwangere Verlobte Carrie Symonds.

Die 32-Jährige hatte sich nach eigenen Angaben auch mit dem Coronavirus infiziert, aber nur leichte Symptome entwickelt. Eine Woche nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus geht es Johnson nach Regierungsangaben auch bereits deutlich besser. Johnson „erholt sich gut und ist gut gelaunt“, sagte Gove am Sonntag dem Sender Sky News.

Wegen der Pandemie sollen auch die üblichen Salutschüsse zum Geburtstag von Königin Elizabeth II. ausfallen. „Unter den gegebenen Umständen“ halte die Queen diese Tradition für „nicht angemessen“, teilte der Buckingham-Palast mit. Die dienstälteste Monarchin der Welt wird am Dienstag 94 Jahre alt.