Junge Menschen sitzen zusammen in Stockholm
AP/Andres Kudacki
Vizeregierungschefin

Sonderweg Schwedens ein „Mythos“

Das „schwedische Modell“ bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie ist in den vergangenen Wochen in weltweiten Debatten zum Gegenentwurf zu den meisten anderen Ländern geworden: Es gab keinen „Lock-down“, Gastronomie und Schulen blieben offen, und die Regierung agierte fast nur mit Empfehlungen. Die stellvertretende Regierungschefin Isabella Lövin versuchte dieses Bild in einem BBC-Interview zurechtzurücken: Es sei ein „Mythos“, dass Schweden nicht ebenfalls drastische Schritte gesetzt habe.

Lövin dementierte in der „Andrew Marr Show“ der BBC, dass Schweden eine Strategie der „Herdenimmunität“ verfolge, also darauf setze, dass man das Virus sich verbreiten lässt, damit in der Bevölkerung eine Immunität aufgebaut werde. Das sei nicht das Ziel: „Die Strategie besteht darin, zu versuchen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen und die Todesfälle und die Krankheit in der Bevölkerung zu begrenzen. Die Experten sagen uns, dass sie nicht einmal zu 100 Prozent wissen, wann bei einer einzelnen Person eine Immunität erreicht ist.“

Ähnlich wie Lövin hatten sich davor schon andere Regierungsmitglieder geäußert, wohl auch als eine Art Rückzieher. Lövin räumte ein, dass Schweden ein „großes Problem“ mit seiner Strategie zum Schutz der älteren Menschen habe und dass das „etwas sei, von dem wir lernen“. Vor allem im Raum Stockholm hätten sich in Altersheimen viele Menschen angesteckt.

Stark steigende Totenzahl

Tatsächlich ist die Totenzahl in Schweden zuletzt rasant angestiegen. Fast 2.200 Todesfälle sind in Verbindung mit Covid-19 zu beklagen, auf die Bevölkerungszahl gerechnet sind das weit mehr als in Schwedens Nachbarstaaten und auch in Österreich und Deutschland. Auch aus diesem Grund war in den vergangenen Wochen die Kritik am schwedischen Umgang mit der Epidemie international lauter geworden, auch im Land selbst sind die Strategien keineswegs unumstritten.

Eine Grafik zeigt die Covid-19-Toten ausgewählter Länder pro 100.000 Einwohner
Johns Hopkins University

Maßnahmen sollen zur politischen Kultur passen

Lövin sagte der BBC, man habe sehr wohl auch Verbote erlassen: Ältere Menschen in Altersheimen dürften nicht mehr besucht werden, alle Veranstaltungen mit mehr als 50 Leuten seien untersagt. Zuletzt drohte die Regierung mit Schließungen der Gastronomie, falls sich die Bevölkerung nicht an die „Empfehlungen“ hält.

Löwin ortete in der BBC weiterhin eine hohe Akzeptanz der Regierungsstrategie: „Jedes Land muss seine eigenen Maßnahmen setzen – die auch zu den eigenen Traditionen und zu System und Kultur des Regierens passen.“ Und sie betonte, dass auch die schwedischen Maßnahmen deutliche Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Freiheit der Menschen hätten. 90.000 Menschen seien in den vergangenen Wochen arbeitslos geworden.

Isabella Lövin
APA/AFP/Jonathan Nackstrand
Isabella Lövin von den Grünen ist schwedische Umweltministerin und Vizeministerpräsidentin

„Menschen wie Erwachsene behandeln“

Lövin sagte, es bestehe die Befürchtung, dass die Auferlegung zu strenger Beschränkungen nach hinten losgehen könnte: Man habe von Anfang an gewusst, „dass das kein Sprint, sondern ein Marathon werde. Wir wollen die Bevölkerung nicht ermüden.“ Würden die Menschen mit Verboten überfordert, dann könnte sie das dazu veranlassen, Maßnahmen zu missachten, die „wir für eine sehr lange Zeit in Kraft behalten müssen – bis wir einen Impfstoff haben oder bis wir wissen, wie diese Pandemie enden wird“.

Sie sagte, es sei „entscheidend“ und „absolut grundlegend“, dass Regierungen so transparent wie möglich gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern seien und „die Menschen wie Erwachsene behandeln“: „Das bringt Verantwortung und individuelle Verantwortung mit sich, dass man auf das hören muss, was die Experten sagen.“

Auch Staatsepidemiologe spielt Sonderweg hinunter

Der Experte in Schweden schlechthin ist Staatsepidemiologe Anders Tegnell, der als Architekt des Umgangs seines Landes mit der Pandemie gilt. Immer wieder sprach er in Interviews davon, dass die Immunität in der Bevölkerung der entscheidende Hebel für die Bekämpfung des Virus sei. In einem Interview mit „Nature News“ äußerte er ebenfalls die Vermutung, dass es schon eine gesteigerte Immunität geben könnte – und das, obwohl zuletzt zwei größere Studien nach peinlichen Fehlern zurückgezogen werden mussten, wie der „Spiegel“ berichtete.

Tegnell schlägt bei dem Interview auch andere Töne an, die sehr nach den Sätzen Lövins klingen: „Ich denke, es wurde übertrieben dargestellt, wie einzigartig dieser Ansatz ist.“ Wie viele andere Länder versuche Schweden die Kurve zu verflachen und die Ausbreitung so weit wie möglich zu verlangsamen: „Sonst droht dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft der Zusammenbruch.“

Gar keine großen Unterschiede?

Weil die Krankheit „nicht gestoppt oder ausgerottet werden kann, zumindest bis ein wirksamer Impfstoff hergestellt ist“, müsse man „langfristige Lösungen finden, die die Verbreitung von Infektionen auf einem vernünftigen Niveau halten“. Die Ziele, etwa die Menschen auseinander zu halten, seien dieselben wie in andern Ländern. Mit den schwedischen Traditionen habe man aber einen etwas anderen Weg gewählt.

Menschen auf einer Brücke in Stockholm
Reuters/TT News Agency/Fredrik Sandberg
Alltag in Schweden

Zuletzt stellte der „Spiegel“ infrage, wieweit sich der schwedische Weg überhaupt von dem anderer Länder unterscheide – zumal dieser Tage in den meisten dieser Länder auch schon Lockerungen in Kraft treten, die dem Alltag in Schweden langsam immer näher kommen. Auch in Österreich und Deutschland wird nun auf Eigenverantwortung in der Bevölkerung gepocht.

Umgekehrt kommt Schweden offensichtlich nicht gänzlich ohne Zwangsmaßnahmen durch die Krise: Montagfrüh wurde bekannt, dass in der Region Stockholm erstmals mehrere Restaurants behördlich geschlossen wurden. Trotz Verwarnungen hatten sich weiter zu viele Menschen in den Lokalen gedrängt.