Richter des deutschen Höchstgerichts in Karlsruhe
APA/dpa/Sebastian Gollnow
Urteil zu EZB-Anleihenkauf

Deutsches Höchstgericht stellt sich gegen EuGH

Ein Urteil mit möglicherweise weitreichenden Folgen für die Europäische Union hat das deutsche Höchstgericht in Karlsruhe gefällt: Erstmals stellte sich das Bundesverfassungsgericht – in Teilen – gegen ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Konkret geht es um den Aufkauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB), mit dem seit Jahren vor allem die Wirtschaft in den schwer verschuldeten Staaten der Euro-Zone gestützt wird. Diese Kaufprogramme verstoßen teilweise gegen das deutsche Grundgesetz, weil die deutsche Regierung und der Bundestag die EZB-Beschlüsse nicht geprüft haben. Dieses Urteil verkündete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Dienstag.

Mit dem Urteil, das Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verkündete, hatten Verfassungsbeschwerden teilweise Erfolg. Der Bundesbank ist es untersagt, nach einer Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an der Umsetzung des EZB-Anleihekaufprogramms mitzuwirken, sofern der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nicht nachvollziehbar darlegt, dass das Programm verhältnismäßig ist, heißt es in dem Urteil.

Richter des deutschen Höchstgerichts in Karlsruhe
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Voßkohle (M.) verkündete des Urteils

„Zum Entgegentreten verpflichtet“

„Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung der PSPP (EZB-Kaufprogramm, Anm.) entgegenzutreten“, heißt es in dem Urteil. Außerdem erklärte das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des EuGH vom Dezember 2018 zum Kaufprogramm der EZB für willkürlich und damit für das Bundesverfassungsgericht nicht bindend. Der EuGH hatte das EZB-Programm in allen Punkten gebilligt.

Die Entscheidung des EuGH sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“, hieß es in der Karlsruher Entscheidung. Das deutsche Gericht erklärte damit das EuGH-Urteil im juridischen Sinne für willkürlich. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Bundesverfassungsgericht nicht mehr an EuGH-Entscheide gebunden fühlen muss. Über den aktuellen Anlass hinaus dürfte das Urteil langfristig Folgen haben: Die Autorität des EuGH ist damit angekratzt. Es drohe nun, wie die „Süddeutsche Zeitung“ betont, „ein Konflikt um Entscheidungsbefugnisse auf europäischer Ebene“.

EU-Kommission betont Vorrang für EuGH

Rasch reagierte die EU-Kommission. Sie erinnerte nach dem Karlsruhe-Urteil an den Vorrang europäischen Rechts. Die Urteile des EuGH seien für alle Mitgliedsstaaten bindend, betonte Kommissionssprecher Eric Mamer am Dienstag in Brüssel. Nationale Regierungen haben in der Vergangenheit teils ihnen nicht genehme EuGH-Urteile kritisiert. Für die Kommission als Hüterin der EU-Verträge ist der Gang zum EuGH zwar das letzte, aber wichtigste Druckmittel, um nationale Regierung zur Einhaltung von Verpflichtungen aus den EU-Verträgen zu bringen.

Keine unüberwindliche Hürde für EZB

Für die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit der EU und insbesondere der Euro-Zone hätte das Urteil schwerwiegende Folgen haben können. Denn im komplizierten Machtausgleich im Gefüge zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und den Einzelinteressen der nationalen Regierungen ist die EZB de facto die einzige Institution, die in einer Wirtschaftskrise rasch und entschlossen handeln kann. Und die deutsche Bundesbank, als Vertreterin der mit Abstand größten Volkswirtschaft in der Euro-Zone, stemmt einen entsprechend großen Anteil dieses Aufkaufprogramms.

Allerdings zeigten sich Ökonomen in einer ersten Einschätzung des Urteils einig, dass die Aufkaufprogramme der EZB fortgesetzt werden können. Auch wenn der Spruch durchaus „Sprengstoff beinhaltet“, so etwa Uwe Burkert von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). Ein Ausweg könnte sein, dass die EZB ihre Beschlüsse und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit klarer und transparenter begründet, betonten mehrere Fachleute gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Arbeitsauftrag an EZB

In seinem 135-seitigen Urteil kam Karlsruhe zu dem Ergebnis, dass die Notenbank offensichtlich ihre Kompetenzen überschritten habe. Das Programm habe „erhebliche ökonomische Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind“, sagte Voßkuhle. Für Sparvermögen ergäben sich deutliche Verlustrisiken, die Immobilienpreise stiegen überproportional.

Außerdem begebe sich das Euro-System in Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedsstaaten. Diese Auswirkungen soll die EZB nun nachvollziehbar gewichten und mit ihren Zielen und den erhofften Vorteilen in Beziehung setzen. Anders sei eine effektive gerichtliche Kontrolle nicht möglich, hieß es.

Merkel: Grenzen für EZB aufgezeigt

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte laut Nachrichtenagentur dpa in einer internen Sitzung der CDU/CSU-Fraktion, das Urteil weise auf die Grenzen der EZB hin. Das sei auch institutionell von Bedeutung, denn das Gericht stelle sich bis zu einem gewissen Grad gegen den Europäischen Gerichtshof (EuGH).

SPD-Finanzminister Olaf Scholz wiederum betonte, das Urteil stelle die Währungsunion nicht infrage. Die Bundesbank könne weiter am EZB-Kaufprogramm mitmachen. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, der auch Mitglied im EZB-Rat ist, betonte, die EZB habe nun drei Monate Zeit, seine Abwägungen darzulegen. Dabei werde er helfen.

Keine verdeckte Staatsfinanzierung

Aus wirtschaftspolitischer Sicht entscheidend ist, dass Karlsruhe den zentralen Punkt der EZB-Kritiker zurückgewiesen hat: Die Höchstrichter erkannten darauf, dass es sich bei dem EZB-Aufkaufprogramm nicht um eine versteckte Staatsfinanzierung von verschuldeten Euro-Staaten handelt. Die aktuellen Hilfen im Zuge der Coronavirus-Krise waren übrigens nicht Gegenstand der Entscheidung.

2,6 Billionen Euro

Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die EZB rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt – den allergrößten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), auf das sich das Urteil bezieht. Ab 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat. Die Deutsche Bundesbank ist der größte Anteilseigner der EZB, mit etwas mehr als 26 Prozent. Entsprechend groß ist ihr Kaufvolumen.

Um die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise abzufedern, hat die EZB ihre Anleihenkäufe noch einmal deutlich ausgeweitet. Ein Extrakrisenprogramm mit 750 Milliarden Euro soll mindestens bis Jahresende laufen – und bei Bedarf „ohne Einschränkung“ ausgeweitet werden. Diese Hilfsmaßnahmen waren nicht Gegenstand der Entscheidung, wie Voßkuhle gleich zu Beginn ausdrücklich klarstellte.

Klage von Gauweiler und AfD-Gründer Lucke

Beschwerdeführer waren unter anderen der frühere CSU-Politiker Peter Gauweiler und AfD-Gründer Bernd Lucke. Das Urteil erging mit sieben zu einer Stimme. Die EZB hatte das Programm 2015 aufgelegt, um die Märkte mit Geld zu versorgen und eine Inflationsrate von etwas unter zwei Prozent zu erreichen. Das Programm wurde mehrfach verlängert und läuft derzeit weiter.