Ein „Closed“-Schild in einem Geschäft
ORF.at/Carina Kainz
Rezession

„Europa erlebt wirtschaftlichen Schock“

Nicht nur in der Realwirtschaft, auch bei den Prognosen dreht sich derzeit eine Spirale nach unten. In ihrer jüngsten Einschätzung geht die EU-Kommission von einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Österreich von bis zu 5,5 Prozent aus, einzelne Länder erwischt es noch schlimmer. Europa erlebe einen Schock, sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni am Mittwoch. Der Lichtblick: Es soll auch recht steil wieder bergauf gehen.

Die EU-Kommission revidierte mit ihrer am Mittwoch veröffentlichten Frühjahrsprognose die letzten Zahlen von Februar deutlich nach unten. Für Österreich hatten das zuletzt auch das Institut für Höhere Studien (IHS) und des Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) getan, es gibt unterschiedliche Einschätzungen und Szenarien, je nachdem, wie lange die durch die Coronavirus-Pandemie ausgelöste Krise noch andauert und wann Maßnahmen, die die Wirtschaft bremsen, wieder zur Gänze aufgehoben werden können.

Die Kommission geht aktuell davon aus, dass das österreichische BIP in diesem Jahr um 5,5 Prozent sinken und im kommenden um 5,0 Prozent wachsen wird. IHS und WIFO waren im März von minus 2,0 bis 2,5 Prozent ausgegangen, zuletzt schlossen sie als „Worst Case“ minus sechs Prozent nicht aus – unter der Annahme, der „Lock-down“ zieht sich bis in den Juni hinein.

Fast zweistelliges Minus in mehreren Ländern

Die Wirtschaftsleistung der Euro-Zone soll laut Kommission 2020 um 7,7 Prozent zurückgehen und 2021 um 6,3 Prozent zunehmen. Im EU-Schnitt dürfte das BIP heuer um 7,4 Prozent sinken und 2021 um 6,0 Prozent steigen. In der Winterprognose im Februar war die Kommission noch von einem Wachstum in Österreich von 1,3 und in der Euro-Zone von 1,2 Prozent ausgegangen.

Grafik zeigt die EU-Frühjahrsprognose 2020/21
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU-Kommission

Noch deutlich drastischer als in Österreich und dem Durchschnitt der Euro-Zone fällt der Einbruch in einzelnen EU-Ländern aus. Griechenland trifft es mit minus 9,7 Prozent am härtesten, gefolgt von Italien mit minus 9,5 Prozent und einem prognostizierten Budgetdefizit von mehr als elf Prozent. Über neun Prozent liegt das BIP-Minus auch in Spanien und Kroatien, über acht Prozent in Frankreich, bei minus 6,5 Prozent in Deutschland.

Drastische Vergleiche

EU-Wirtschaftskommissar Gentiloni, früherer italienischer Regierungschef, zog am Montag angesichts der Zahlen drastische Vergleiche – nicht mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008, sondern mit den 1930er Jahren. „Europa erlebt einen wirtschaftlichen Schock ohne Präzedenzfall seit der Großen Depression“, sagte er. Die „Tiefe der Rezession" und „die Stärke der Erholung“ würden ungleich ausfallen „aufgrund der Geschwindigkeit, mit der die Sperren aufgehoben werden können“.

Auch wenn es sich um eine zuletzt immer wieder zitierte „V-Rezession“, eine Bewegung in Form dieses Buchstabens, steil nach unten und ähnlich steil nach oben handle: Die prognostizierte Erholung fällt nicht ganz so stark aus wie der erwartete Abschwung. Die Verluste würden unter dem Strich nicht wettgemacht, hieß es entsprechend auch von der Kommission, die Rezession erreiche historisch Ausmaße.

Arbeitslosigkeit steigt weiter

Wichtige Faktoren seien das Tempo bei der Aufhebung der Auflagen zur Bekämpfung der Pandemie, die Abhängigkeit der Volkswirtschaften etwa vom Tourismus und die finanziellen Spielräume im jeweiligen Staatshaushalt. Diese Ungleichheit bedrohe auch die Einheit des Binnenmarkts und der Euro-Zone, warnte der EU-Wirtschaftskommissar. „Wir müssen diese Herausforderung bewältigen.“

Die Arbeitslosenrate in der Euro-Zone wird der aktuellen Prognose zufolge von 7,5 Prozent 2019 auf 9,5 Prozent in diesem Jahr steigen. Für das kommende Jahr wird ein Rückgang auf 8,5 Prozent erwartet. Für die gesamte EU wird ein Anstieg von 6,7 Prozent im vergangenen Jahr auf 9,0 Prozent heuer prognostiziert. 2021 dürfte die Rate bei 8,0 Prozent liegen. Vor allem junge Leute dürften es viel schwerer haben, einen ersten Job zu finden, erklärte die Kommission.

Höhere Defizite, höhere Staatsschulden

Die Inflation wird der EU-Prognose zufolge stark zurückgehen. Die Teuerungsrate in der Euro-Zone, die mit dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) gemessen wird, wird für 2020 mit 0,2 Prozent angesetzt und für 2021 mit 1,1 Prozent. Für die EU insgesamt belaufen sich die entsprechenden Werte auf 0,6 Prozent in diesem und 1,3 Prozent im nächsten Jahr.

Weil die Mitgliedsstaaten zur Krisenbewältigung Milliarden ausgeben, werden die Haushaltsdefizite nach Erwartung der EU-Kommission stark steigen. Der Wert für das Minus im Schnitt aller Mitgliedsstaaten wurde von minus 0,6 auf minus 8,5 Prozent revidiert. Geschätzte 3,5 Prozent minus im kommenden Jahr zeigen, dass die Defizite auch nicht schnell abgebaut werden können. In Österreich soll das gesamtstaatliche Defizit heuer bei 6,1, im nächsten Jahr bei 1,9 Prozent liegen. Die Staatsverschuldung soll 2020 um mehr als acht Prozentpunkte auf 78,8 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen, 2021 dann wieder auf 75,8 Prozent sinken.

Der Schuldenstand der Länder der Euro-Zone insgesamt wird damit laut Prognose von 86 Prozent 2019 auf 102,75 Prozent des BIP steigen. Erlaubt sind in der EU eigentlich nur 60 Prozent des BIP, praktisch wurden die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch die Krise außer Kraft gesetzt. Die Kommission weist auch darauf hin, dass die Prognose mit außergewöhnlich großen Unsicherheiten behaftet ist. Grundlage sei die Erwartung, dass die Beschränkungen ab Mai schrittweise gelockert werden. Falle die Pandemie schwerwiegender und länger aus, könnte das zu einem noch größeren Einbruch der Wirtschaftsleistung führen, heißt es.