Russische Soldaten helfen einem verletzten Kameraden in Wien; 1945
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75 Jahre Kriegsende

Das „Jahr null“ und das Ausnahmegedenken

Vor 75 Jahren hat mit der bedingungslosen Kapitulation NS-Deutschlands der Zweite Weltkrieg in Europa geendet. Für den Kontinent und Österreich begann eine Zeit der Neuordnung und Aufbrüche, aber auch der andauernden Aufarbeitung von Krieg und Faschismus. Am Freitag wird des Kriegsendes in vielen Staaten gedacht – gerade zum „runden“ Jubiläum wird es aber eine Feier mit Distanz.

Denn die Coronavirus-Krise überschattet auch den 8. Mai. Ein Großteil der weltweit geplanten Feierlichkeiten kann nicht oder nur eingeschränkt stattfinden, inklusive der traditionellen Militärparaden in Großbritannien und Russland – Letztere hätte die größte in der russischen Geschichte werden sollen. Das trifft besonders die Überlebenden schwer. Ein Gedenken an Ort und Stelle und in Gemeinschaft bleibt ihnen verwehrt – umso deutlicher wird die Bedeutung einer reichhaltigen Gedenkkultur in Internet und Medien.

Archive, Onlineausstellungen und Zeitdokumente spielen heuer eine besondere Rolle in der Betrachtung einer jungen Zweiten Republik, die einerseits eine große Zäsur hinter sich hatte, andererseits auch von zahlreichen Kontinuitäten geprägt war. Der 8. Mai 1945 lässt sich so beispielsweise „nachhören“ – etwa in der österreichischen Mediathek. Er sei ein „wunderbarer Mai-Morgen“ mit Sonne und blauem Himmel gewesen, heißt es dort in einer Radioreportage der BBC aus einem Acker in Ennsdorf, in der über den „großen Treck“ deutscher Truppen auf dem Weg in die amerikanische Kriegsgefangenschaft berichtet wird: „Die Szenen, die ich hier sehe, sind das Ende des europäischen Krieges.“

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Schlange vor einer Anker-Brotfabrik-Verkaufsstelle in Wien, 1945
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Die Lebensmittelknappheit war eines der größten Probleme der Nachkriegszeit – erst 1953 sollte weitgehende Versorgungssicherheit eintreten
Kriegsschäden an der Wiener Staatsoper 1945
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Zudem lag die Stadt nach dem Bombenkrieg in Trümmern – auch die Staatsoper
Reparaturarbeiten an den Straßenbahnschienen am Wiener Ring, 1945
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Reparatur- und Wiederaufbauarbeiten liefen relativ bald an, sollten aber Jahre dauern
Wahl Karl Renners zum Bundespräsidenten im Parlament, Wien 1945
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Am 20. Dezember 1945 wurde Karl Renner zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt
Wien nach der Besetzung durch die Truppen der Roten Armee, sowjetische Soldaten vor dem Parlamentsgebäude 1945
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Sowjetische Soldaten vor dem Parlamentsgebäude
Eine russische Soldatin regelt nahe der Wiener Staatsoper den Verkehr,  Frühjahr 1945
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Wien wurde in der Besatzungszeit – wie Berlin – für zehn Jahre zur Viersektorenstadt

Der Weg zur deutschen Kapitulation

Abgezeichnet hatte sich dieses Ende in der „Ostmark“ schon längst. Im Spätmärz 1945 hatten sowjetische Truppen die Grenze des Burgenlands erreicht, Mitte April endete die NS-Herrschaft in Wien. Am 27. April folgt mit dem provisorischen Staatsgründungsakt die Wiederherstellung der Republik Österreich, drei Tage später brachte sich Adolf Hitler um. Bis zum 8. Mai kosteten die letzten sechs Wochen der NS-Terrorherrschaft noch einmal 90.000 Menschen in Österreich das Leben, unter anderem durch exzessive Zwangsarbeit, Todesmärsche aus den aufgelösten KZ und andere „Endphaseverbrechen“.

41 Tage der Gewalt – Die letzten Wochen des Weltkriegs

Die Dokumentation folgt den blutigen Spuren dieser Endphaseverbrechen, in denen der menschenverachtende Wahn des Nazismus ein letztes Mal grausam wütete.

Trotz teils auch wirksamer Propaganda bis zum Schluss hatte das NS-Regime spätestens seit der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 auf sein Ende zugesteuert. Daran änderten auch der intensivierte NS-Terror, der „Volkssturm“ und die Destruktivität des „Totalen Krieges“ nichts mehr. Ab dem 4. Mai kapitulierten die Wehrmacht und die NS-Regierung unter dem von Hitler selbst eingesetzten Nachfolger Karl Dönitz mehrfach bedingungslos. Die mit 8. Mai festgesetzte deutsche Kapitulationserklärung wurde am 7. Mai im französischen Reims und noch einmal auf Wunsch der Sowjetunion in der Nacht auf den 9. Mai in Berlin unterzeichnet. Mit diesem Tag endete zumindest in Europa der tödlichste militärische Konflikt der Geschichte – in Asien tobte der Krieg noch bis Herbst weiter.

Feldmarschall Wilhelm Keitel unterzeichnet die deutsche Kapitulation am 7. Mai 1945
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Wilhelm Keitel unterzeichnet im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht

Gesellschaft in Schutt und Asche

Bevor das Kriegsende verkündet wurde, wichen auch in Österreich die nationalsozialistischen Propagandablätter den Presseorganen der Alliierten. Ab Mitte April konnte man in der Allparteienzeitung „Neues Österreich“ und der sowjetischen „Österreichischen Zeitung“ Schritt für Schritt den Niedergang des NS-Staates nachlesen – nebst demonstrativen Vorstößen in eine Art Normalität: die ersten Fußballspiele, die angekündigte Eröffnung mancher Wiener Freibäder und Theater, das Überleben der Schönbrunner Zootiere.

Doch das Leben sollte sich nach Kriegsende noch lange nicht in Stadien und Theaterlogen abspielen. Die Bevölkerung stand vor einer Trümmerlandschaft, Industrie und Wirtschaft waren zerstört, die Versorgungslage nahezu eine Dekade lang katastrophal, viele Menschen hatten Angehörige verloren und die Frage der Flüchtlinge und Displaced Persons (DP) sollte über Jahre hinweg zentral bleiben. Über all dem stand die Problematik des politischen und demokratischen Wiederaufbaus, der österreichischen Identität und des Umgangs mit dem Erbe der eigenen NS-Vergangenheit.

Faksimile der Titelseite der Zeitung „Neues Oesterreich“ von 8. Mai 1945, die das Kriegsende verkündet
ANNO/Österreichische Nationalbibliothek
Die Allparteienzeitung „Neues Österreich“ vom 8. Mai 1945

Die Frage der Deutung

Diese Fragen manifestierten sich auch um den 8. Mai selbst, der sowohl in Österreich als auch in Deutschland ambivalent gedeutet wurde. In Deutschland wandelte erst eine Rede des Bundespräsidenten Richard Weizsäcker 1985 den 8. Mai langsam von einem Tag der Niederlage in einen „Tag der Befreiung“ von einer verbrecherischen Ideologie. Gleichzeitig schwelt bis heute eine Debatte darüber, wie sehr Deutschland die Erzählung einer Befreiung für sich überhaupt reklamieren darf – gerade angesichts des Bestrebens rechtsextremer Strömungen, deutsche Opfererzählungen zu verstärken.

TV-Hinweis

Das ORF-TV hat zum 8. Mai und darüber hinaus einen Schwerpunkt zum Weltkriegsende in Österreich und zur Gründung der Zweiten Republik – mehr dazu in tv.ORF.at.

In Österreich ist unterdessen überhaupt die Entwicklung des 8. Mai zum Gedenktag bezeichnend. Das Datum war bis vor wenigen Jahren kaum präsent, wurde in der kollektiven Wahrnehmung sowohl von der Wiederausrufung der Republik Österreichs am 27. April 1945 als auch der Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 übertrumpft. Stattdessen versammelten sich in den Jahren vor 2013 alljährlich am 8. Mai schlagende Burschenschafter zum umstrittenen Totengedenken auf dem Heldenplatz. Um das zu verhindern, wurden Mahnwachen des Bundesheers und auf Initiative des Mauthausen Komitees das „Fest der Freude“ ins Leben gerufen und seither gefeiert.

„Fest der Freude“ mit Konzert der Wiener Symphoniker vor der Hofburg in Wien
APA/Hans Punz
Statt Burschenschaften: Das „Fest der Freude“ im Vorjahr

Programm verlagert sich auf den Schirm

Aufgrund des Coronavirus kann das „Fest der Freude“ nun zum ersten Mal nicht auf dem Heldenplatz stattfinden, es wird aber online gestreamt und in ORF III übertragen. Neben einer Rede der Zeitzeugin Erika Kosnar werden auch die Wiener Symphoniker auftreten. Am Sonntag lädt das Mauthausen Komitee zudem zu einer virtuellen internationalen Befreiungsfeier des KZ Mauthausen. Auch diese wird auf ORF III übertragen. Insgesamt bietet der ORF ein ausführliches Programm zum Jubiläum des Kriegsendes an – mehr dazu in tv.ORF.at.

Auch im Ausland werden die Feierlichkeiten klein gehalten, darunter auch jene in Deutschland und Frankreich. Die Militärparaden in Russland und Großbritannien wurden auf unbestimmte Zeiten verschoben. Was bleibt, ist die traditionelle Rede von Queen Elizabeth II., die im Fernsehen übertragen wird. Anschließend soll ein landesweites „Sing-along“ des Weltkriegs- und mittlerweile auch Coronavirus-Hits „We’ll Meet Again“ von Vera Lynn stattfinden. Die heute 103 Jahre alte Sängerin hat ebenfalls angekündigt, daran teilzunehmen.