Ein Fleischer bearbeitet Fleisch
APA/AFP/Remy Gabalda
CoV-Krise

Viele Infizierte in deutschen Schlachthöfen

Die deutsche Fleischindustrie ist von der Coronavirus-Pandemie offenbar außergewöhnlich stark betroffen. In einigen Schlachthöfen haben sich auffällig viele Beschäftigte angesteckt. Sie wurden geschlossen. Die gesamten Belegschaften sollen nun getestet werden.

In Coesfeld in Nordrhein-Westfalen wurde der kritische Wert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche überschritten. Dort erreichte die Zahl 52,7. Das Virus hatte sich zuletzt vor allem in einem Schlachtbetrieb ausgebreitet. Dort wurden 129 Infizierte erfasst. Alle 1.200 Beschäftigten sollen nun getestet werden.

Der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann (CDU), griff durch und ließ den Betrieb vorerst schließen. In einem Schwesterbetrieb des Coesfelder Werks in Oer-Erkenschwick in Recklinghausen sollen sich außerdem 33 von 1.250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit dem Virus angesteckt haben.

Alle Mitarbeiter werden getestet

Auch in Schleswig-Holstein ist ein Schlachthof betroffen. Die meisten Infizierten sind Beschäftigte eines Fleischbetriebs in Bad Bramstedt in Segeberg. Dort wurden bis Donnerstag 109 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet, wie die Behörden mitteilten. Alle Beschäftigten des Betriebs seien unter Quarantäne gestellt worden, unabhängig vom Testergebnis.

Ein Großteil der Arbeiter aus dem Ausland sind auf dem Gelände einer Kaserne in Steinburg in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Steinburg lag mit 87 bestätigten aktuellen Fällen über dem Grenzwert. Auch das Gesundheitsministerium von Schleswig-Holstein kündigte am Freitag an, die Belegschaft aller Schlachtbetriebe im Land auf das Coronavirus testen zu lassen.

„Unhaltbare Zustände bei Infektionsschutz“

Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) forderte seine Länderkollegen laut einem Medienbericht wegen mehrerer CoV-Ausbrüche auf, den Arbeitsschutz für Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und in der Fleischindustrie streng zu kontrollieren. „Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Situation in Sammelunterkünften und beim Personentransport zu legen“, heißt es darin laut NDR und WDR.

Anlass des Schreibens seien Medienberichte über „unhaltbare Zustände beim betrieblichen Infektionsschutz“. In seinem Brief an seine Ministerkollegen in den Ländern weist Heil laut dem Bericht darauf hin, dass sich bereits mehrere diplomatische Vertretungen der Herkunftsländer von Arbeiterinnen und Arbeitern bei der Bundesregierung beschwert hätten.

Erntehelfer im Fokus

Arbeitsmigranten und Saisonarbeiter in der Fleischindustrie und auch der Landwirtschaft stehen dem Coronavirus oftmals wehrlos gegenüber. Denn die Menschen leben meist in engen Sammelunterkünften, was die Infektionsgefahr erheblich verschärft. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es 35 große Schlachthöfe mit bis zu 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ebenso wie Nordrhein-Westfalen will auch Sachsen-Anhalt alle Mitarbeiter von Schlachtbetrieben im Land auf das Coronavirus testen. Zusätzlich werde man auch alle Erntehelferinnen und -helfer testen, kündigte die Gesundheitsministerin von Sachsen Anhalt, Petra Grimm-Benne (SPD), an. Hygiene- und Sicherheitsregeln würden in vielen Betrieben noch nicht beachtet.

Hunderte positive Tests

Laut einem Bericht des „Spiegel“ wurden bisher bundesweit mehr als 600 Mitarbeiter in Schlachtbetrieben positiv auf das Coronavirus getestet. Meist hätten sich rumänische Werkvertragsarbeiter angesteckt, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, berichtete das Magazin unter Berufung auf Behörden.

Auch bei einem baden-württembergischen Produzenten seien in den vergangenen Wochen etwa 300 Infizierte registriert worden. „In den Betrieben darf weitergearbeitet werden, weil die Behörden davon ausgehen, die Lage mit den verfügten Quarantänemaßnahmen unter Kontrolle zu haben“, hieß es in dem „Spiegel“-Bericht weiter.

Branche nicht unter Generalverdacht stellen

Die Firma Tönnies, Deutschlands größer Fleischverarbeiter, warnte unterdessen davor, die Branche unter Generalverdacht zu stellen. „Wir wurden in der Ernährungsindustrie vor acht Wochen aufgefordert, während des ‚Lock-down‘ weiterzuarbeiten, so wie Krankenhäuser, Pflegeheime und die Energieversorgung“, sagte Sprecher Andre Vielstädte am Freitag. Diesem Auftrag sei das Unternehmen nachgekommen – „bei dem Wissen, dass wir dadurch ein erhöhtes Infektionsrisiko haben“.

Trotz erheblicher Maßnahmen, die Tönnies umsetze, bleibe – wie in Krankenhäusern und Pflegeheimen – ein Restrisiko. „Im Lichte dieses bekannten Zielkonflikts darf nicht eine ganze Branche nun unter Generalverdacht gestellt werden“, sagte der Sprecher.

Eine Art „Notbremse“

In Deutschland hatten sich am Mittwoch Bund und Länder darauf verständigt, dass zahlreiche im Zuge der Coronavirus-Krise verfügte Einschränkungen des öffentlichen Lebens am Montag wieder gelockert werden. Sollte es zu einer Überschreitung des Grenzwerts der Neuinfektionen von 50 auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen kommen, soll umgehend wieder ein Beschränkungskonzept in Kraft treten – eine Art „Notbremse“. Falls es sich um ein lokales und klar eingrenzbares Infektionsgeschehen handelt, zum Beispiel in einer Einrichtung, können Beschränkungen nur für diese Einrichtung angeordnet werden.

Warnung vor Überforderung der Behörden

Politiker von SPD und Grünen warnten davor, Landkreise und Städte könnten überfordert sein. „Die Kommunen haben weder die Expertise noch das Personal, wirkungsvoll die Ursachen ihrer lokalen Ausbrüche zu erkennen oder zu bekämpfen“, sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Auch Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt pochte auf Hilfe für die Kommunen. „Wir machen uns große Sorgen, dass uns die Situation entgleitet, wenn wir nicht ausreichend Personal in den Gesundheitsämtern und Testmöglichkeiten haben“, sagte die Grünen-Politikerin dem RND. Sie warnte vor einer laxen Umsetzung der Beschlüsse von Bund und Ländern: „Klar ist: Nur durch engmaschige Kontrollen kann ein Rückfall und eine zweite Welle verhindert werden.“

Der deutsche Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) kritisierte, die Gesundheitsämter seien überfordert. Die Verbandsvorsitzende Ute Teichert sagte dem RND: „Die Gesundheitsämter werden ohne dauerhafte Personalunterstützung in die Knie gehen.“ Es ist aber Hilfe unterwegs: Ein ins Parlament eingebrachter Gesetzesentwurf der Großen Koalition aus CDU und SPD sieht insgesamt 50 Millionen Euro für die bundesweit 375 Gesundheitsämter vor, um vor allem die Digitalisierung von Prozessen voranzubringen.