Nationalratspräsident Werner Sobotka (ÖVP) im ORF.at-Interview
ORF.at/Carina Kainz
Sobotka im Interview

„Das Geschichtsbild in der Schule war fatal“

Seit Wolfgang Sobotka Präsident des Nationalrats ist, hat er für sich eine neue Rolle gefunden: der Politiker als Zeithistoriker der Nation. Gerade im Jahr des Republiksjubiläums stellen sich da einige Fragen: Etwa warum er das Haus der Geschichte unter die Hoheit des Parlaments stellen mag. Für Sobotka ist Zeitgeschichte noch nicht wertungsfrei. Weswegen er, wie er sagt, das Bild zur Republik auf breitere Beine stellen wolle. Sein eigenes Bild von der Nation Österreichs, auch das der Verantwortung des Landes in der Nazi-Zeit, sei „fatal gewesen“, beschreibt er im Interview mit ORF.at

Sein Österreich-Begriff sei ein junger und einer, der sich eigentlich erst mit den 1970er Jahren und der späten Schul- und früheren Studienzeit geprägt habe, erzählt der 1956 in Waidhofen an der Ybbs geborene Sobotka im Gespräch mit ORF.at. Für die Gegenwart ortet er ein deutlich abgesichertes Bewusstsein, auch wenn die Menschen weniger an der „großen Geschichte“ denn an ihren eigenen Lebens- und Familienbiografien interessiert seien.

Das Gefühl, nicht lebensfähig zu sein oder sich an eine deutsche Kulturgemeinschaft anschließen zu wollen, sieht Sobotka für das gegenwärtige Österreich überwunden.

Jubiläen der Republik

Vor 75 Jahren wurde in Wien die Unabhängigkeitserklärung Österreichs unterzeichnet. Am 15. Mai jährt sich die Unterzeichnung des Staatsvertrags zum 65. Mal. Seit dem 27. Juli 1955 ist Österreich wieder ein souveränes, unabhängiges Land.

Dass Österreich oft ein „Bollwerk“-Bewusstsein habe, ist für Sobotka nicht nur ein Antiglobalisierungsreflex. Viele Fragen seien hierzulande immer national diskutiert worden, etwa die Fragen von Umwelt- oder Atompolitik. Fehlender Internationalismus, so bekennt er, liegt auch an den Folgen des Holocausts. Darin sieht er das „Paradigma“ jeder zeithistorischen Auseinandersetzung im Land.

Wie weiter mit dem Haus der Geschichte?

Nach wie vor sei Zeitgeschichte „standortgebunden“, so der Präsident des Nationalrats, der seine Idee, das Haus der Geschichte zusammen mit anderen Institutionen unter das Dach des Parlaments zu bekommen, verteidigt. Wissenschaftlichkeit und ein breiter Blick auf die Geschichte sollten durch breite Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, so Sobotka.

Für die Aufarbeitung der Geschichte der Parteien und Lager, die es 1945 gegeben hat, sieht Sobotka einen „immerwährenden Handlungsbedarf“ und verweist dabei auf den Umgang der ÖVP mit der Person des Zwischenkriegspolitikers Leopold Kuntschak. Eine entsprechende Haltung wünscht sich Sobotka von der SPÖ im Umgang mit antisemitischen Äußerungen des früheren Bundeskanzlers Karl Renner.

Sobotka bezieht sich damit auf die Forschungen des Historikers und früheren Salzburger Landeshauptmanns Franz Schausberger, der 2013 Forschungsergebnisse zu den Reden Renners im Parlament der Ersten Republik veröffentlicht und darin zahlreiche antisemitische Aussagen dokumentiert hatte. Für Sobotka stünde auch eine Unbenennung des Renner-Rings, wie damals schon von Schausberger gefordert, an der Tagesordnung.

Das Interview

Herr Präsident Sobotka, weil wir gerade zum 75. Republiksjubiläum so viel über Geschichte reden: Welches Geschichtsbild von Österreich wurde in Ihrem Schulunterricht vermittelt? Und wurde über die Nazi-Zeit geredet?

Das Geschichtsbild war ein fatales. Mein Geschichtsbild hat mit dem Wiener Kongress aufgehört. Mein Interesse, Geschichte zu studieren, hat das aber nicht geschmälert. Im Gegenteil. Als Historiker sind meine Interessenpole die Mediävistik und die Zeitgeschichte. In der Schule waren es die Antike und die Staatenbildung der Neuzeit.

Nationalratspräsident Werner Sobotka (ÖVP) im ORF.at-Interview
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„Wir hatten ein unbedarftes Österreich-Bild in der Schulzeit“, erläutert Sobotka im Interview in seinem Büro im Container neben der Wiener Hofburg

Welchen Begriff von Österreich haben Sie dann in der Schulzeit mitbekommen?

Der Österreich-Begriff der Schulzeit war fast dieses unbedarft neutralisierende Bild der Mozartkugeln und Lipizzaner, des Wiederaufbaus, des Schönen und des Guten, ohne Reflexion zur eigenen Vergangenheit. Meine Lehrer waren sehr alt, gar keine Nazis eigentlich; sie konnten aber aus einer persönlichen Befangenheit nicht über den Krieg reden. Sie hatten kein Interesse, die Geschichte aufzuarbeiten.

Meine Situation war sehr durch die Kleinstadt (Waidhofen an der Ybbs, Anm.) geprägt, wo die Folgen des Kriegs immer sehr spürbar geblieben sind. Und es war auch dadurch geprägt, dass Österreich eigentlich ein Restbestand war, ohne besondere Identität ausgestattet. Wir haben zwar als Kind die rot-weiß-roten Fahnen gemalt. Im Unterricht spielte das aber nie eine Rolle. Das hat sich alles erst mit 1968 gewandelt. Der Einmarsch der Roten Armee in der Tschechoslowakei wurde in der Schule diskutiert, hat sich aber eben nicht im Geschichtsunterricht abgespielt. Damals hat die Frage der Neutralität eine Gestalt bekommen, auch diese Frage, dass man einst ein Großreich war, nun aber doch auf sich selbst gestellt zurechtkommen musste.

Würden Sie also sagen, dass Ihr Österreich-Begriff ein sehr junger ist?

Absolut. Mein Österreich-Begriff beginnt erst wirklich ab der Zeit des Studiums in den 1970er Jahren und der Politisierung in dieser Zeit.

Wie haben Sie sich definiert in dem Raum, in dem Sie aufgewachsen sind?

Da war man zunächst Waidhofner. Das war der Regionalbegriff. Eigentlich war man kein Niederösterreicher. Und dann war man Österreicher. Aber Österreich war ein nach hinten gewandter Begriff, nicht auf die Gegenwart ausgerichtet.

Haben Sie das Gefühl, dass der Österreich-Begriff stark mit einer Sentimentalität verbunden ist?

Damals sehr wohl. Die Rede von der guten alten Zeit hat man dauernd gehört. Erst die Generation der 68er hat die Gesellschaft schließlich nachhaltig umgekrempelt. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Schwester im Gymnasium Hosen oder Miniröcke angezogen hat – das war eine Kulturdiskussion. Es hat immer diese Reflexion auf das sogenannte alte Österreich gegeben, wobei nie ganz klar war, welcher Zeitraum damit genau gemeint war. Auf die Erste Republik war man nicht stolz, zugleich wollte man kein Monarchist sein. Österreich war vor allem ein Gefühl.

Erst jetzt, wenn ich im Ausland bin, spüre ich, dass die ihre eigene Rolle im Verbund der Monarchie besser beleuchten können und auch uns anders sehen.

Nationalratspräsident Werner Sobotka (ÖVP) im ORF.at-Interview
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„Österreich, das war in vielerlei Hinsicht vor allem ein Gefühl“

Manche unserer Nachbarn sind ja sehr junge Nationen, wenn man auf Slowenien oder die Slowakei blickt …

Manche haben mit 1918 ihre eigene Geschichte begonnen, andere mit den Zerfallsprozessen nach 1989.

Erleben Sie es am Ende als eine Chance, eine junge Geschichte zu haben? Mehr die Möglichkeiten zu sehen, um mit Musil zu sprechen, als von der Last der Tradition erdrückt zu werden?

Es braucht beides. Nur mit einer jungen Geschichte, die auf das Vorangehende nicht Bezug mitnimmt, wird es nicht gehen. Andererseits sind auch heutige Fakten nur aus der historischen Entwicklung erklärbar.

Nachdem Sie der Zeithistoriker der Nation geworden sind, …

… (lacht) …

… haben Sie das Gefühl, dass sich die Österreicher jetzt selbstbewusster begreifen, sich klarer als Österreicher sehen?

Ich glaube schon, dass es immer wieder Zäsuren gegeben hat, aus denen wir gelernt haben, dass wir auf uns selbst gestellt sind, dass wir selber Hand anlegen müssen. Und ich glaube, es gibt ein Österreich-Bewusstsein und eine Österreich-Reflexion. Dieses Gefühl, nicht lebensfähig zu sein oder nur auf die deutsche Kulturgemeinschaft zu reduzieren, das ist mehr oder weniger vorbei. Ich glaube, es gibt schon ein Selbstbewusstsein der eigenen Leistungsfähigkeit. Und das verorten die Menschen in ihrer eigenen Lebensbiografie, in ihrem eigenen Blickwinkel.

Aber ist es nicht auch ein Antiglobalisierungsreflex, der uns fast schon zu Bollwerk-Österreichern macht?

Ich glaube, wir haben viele politische Positionierungen aus einer nationalen Haltung eingenommen, ob von der Anti-Atom-Frage, denken wir an Zwentendorf, sei es in der Waldheim-Frage, sei es auch beim Entstehen der Grün-Bewegung und der Klimapolitik. Wir haben ein gespaltenes Verhältnis zur Internationalität – etwa bei der Klimakrise, etwa bei der Datenpolitik: Wir wissen zwar, dass wir das nur international lösen können, denken uns aber gern: Machen wir doch vielleicht lieber einen eigenen Weg. Es gibt ein gespaltenes Verhältnis zum Internationalismus.

Ist das dann nicht das Österreich-Paradox, lange gebraucht zu haben, dass man sich als Österreicher empfindet, sich nun aber vorhalten zu müssen, zu wenig international orientiert zu sein? Müsste man da nicht wieder vom Horizont borgen, den man hier vor über hundert Jahren hatte?

Es ist schon zu bedenken, dass man die Menschen erst motivieren musste, sich in diesen engen, kleinen Grenzen zurechtzufinden. Früher war man ein multiethnisches Land, das über Jahrhunderte gewachsen ist, in dem seit 1912 die muslimische Religion anerkannt war. Dennoch war es auch damals nur eine bestimmte Schicht, die sich mit der polyglotten Internationalität auseinandergesetzt hat. Die meisten waren ja doch sehr regional und lokal gebunden.

Aber in den Jahren 1938 und 1945 und dem Holocaust wurde ja genau dieser internationale Anspruch ausgelöscht …

… ja, aber das wird uns auch immer begleiten. Das ist aber nie von unserer Staatlichkeit abhängig.

Gedenkrede von Wolfgang Sobotka zum 5. Mai 1945

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka spricht über ungewöhnliche Zeiten die derzeit herrschen, diese seien aber nicht mit der Vergangenheit vergleichbar.

Aber kann es überhaupt ein Republikgedenken geben, das nicht zugleich ein Gedenken an den Holocaust ist?

Absolut. All unser jetziges Handeln wird diese Zeit nicht nur nicht ungeschehen machen, sondern braucht auch die Reflexion über diese Zeit. Unsere Geschichte ist ohne Holocaust nicht denkbar. Das ist der Unterschied zu anderen Ländern, die diese Geschichte nicht hatten. Das ist das Paradigma, das uns nicht verlassen wird, und das erfordert deshalb eine besondere Sensibilität. Das verlangt aber auch ein besonderes Hinsehen.

Nationalratspräsident Werner Sobotka (ÖVP) im ORF.at-Interview
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Spätes Nationalbewusstsein, schwieriges Verhältnis zum Internationalismus. Wolfgang Sobotka zur Deklination des Österreich-Begriffs im Gespräch mit ORF.at-Chefredakteur Gerald Heidegger.

Haben Sie das Gefühl, dass gerade jetzt noch Menschen über ihre Zeit im Nationalsozialismus sprechen und sich dieser Geschichte stellen wollen?

Ich habe das Gefühl, dass gerade Mauern des Schweigens brechen. Einerseits, wo aus Scham geschwiegen wurde. Andererseits bei denen, die aus Schuld geschwiegen haben. Aber es gibt auch das Unvermögen, das Grauen zu benennen. Ich glaube, das ist keine historische, sondern eine psychologische Frage, dass man ins Klare kommen will. Es ist nicht die große Geschichte, die die Menschen zuallererst bewegt, in erster Linie geht es um Familiengeschichten, wo die Menschen am Ende ihre historischen Bezüge knüpfen.

Wäre dann das Haus der Geschichte nicht genau der Ort dieses beschriebenen Benennens für Sie? Und warum wollen Sie dieses ans Parlament binden?

Ich glaube, dass es grundsätzlich die Verantwortung eines Staates ist, die großen Linien, die einen Staat betreffen, dass man die in eine möglichst breite Verantwortung gibt und sie nicht einer einzelnen Institution anvertraut. Deshalb wollte ich, dass man die Institutionen Haus der Geschichte, Heeresgeschichtliches Museum, Gedenkstätte Mauthausen und Burgtor unter ein inhaltliches Dach stellt, das sich nicht im Parteiengezänk verstrickt. Geschichte muss eine umfassende sein.

Mich hat immer gestört, wenn es Auslassungen bei der Aufarbeitung des Holocaust gibt, vor allem der letzten hundert Tage vor dem Kriegsende. In gleichem Maße gehört auch die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei und anderen Ländern aufgearbeitet. Es gibt immer noch eine Diskussion, wie wir die Russen wahrnehmen: Sind sie die ‚Befreier‘ oder die ‚Besatzer‘?

Passen für Sie beide Begriffe?

Ich neige dazu, dass sie Befreier sind, die einen ungeheuren Blutzoll zu leisten hatten. Aber als Befreier sind sie auch als Besatzer aufgetreten, und die Taten als Besatzer wurden ja teilweise auch erst in letzter Zeit, nach Öffnung der russischen Archive, aufgearbeitet.

Weil Sie es vorher angesprochen haben: Glauben Sie also, dass Geschichte immer noch eine Bewertungsgeschichte ist? Halten wir eine neutrale Behandlung historischer Prozesse immer noch nicht aus? Gibt es eine Geschichte mit kaltem Blick, die sich historischen Vorgängen rein deskriptiv nähert, ohne gleich Schuldfragen zu behandeln?

Die haben wir zweifelsohne nicht. Wir haben noch immer nationale Geschichtsschreibung, internationale, im Sinne des dialektischen Materialismus. Ich vermisse den neutralen Zugang Rankes, diesem ‚Wie es gewesen‘, dem ich mich verpflichtet fühle. Zeitgeschichte wird immer auch aus einer Haltung heraus betrieben. Mir gefällt im Haus der Geschichte die Art, wie man sich der Dollfuß-Zeit nähert. Lange Zeit war das ja alles eine sehr monokausale Geschichte, die immer wieder verkürzt wurde.

Aber gerade die jüngsten Bände zur Geschichte der Ersten Republik zeigen doch, dass es ein deutlich unumstritteneres Bild dieser Zeit gibt als noch vor 20 Jahren, gerade auch im Bereich der Terminologien.

Ja, ja, da geb ich Ihnen recht, dass sich da vieles weiterentwickelt hat. Und vieles ist der Künstlichkeit des gedanklichen oder ideologischen Überbaus beraubt. Auch das Urteil im Schattendorf-Prozess 1927 sieht man ja heute, bei allen berechtigten moralischen Wertungen, anders als in der Vergangenheit; man sieht, dass es im Rechtsrahmen der damaligen Zeit ein ganz sauberer Prozess war.

Aber braucht es dabei nicht wissenschaftliche Institutionen, die komplett unabhängig agieren. Also, wenn Sie vorschlagen, dass man die beschriebenen Organisationen unter einem Dach vereint, wer garantiert die Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit?

Das sollten wissenschaftliche Organisationen sein, unabhängig wie die Universitäten, die aber eine gemeinsame organisatorische Führung brauchen. Und das kann hier im Parlament einfacher im Konsens bestimmt werden als in einem Ministerium, das von Mal zu Mal seinen Chef, der meist eine Partei repräsentiert, wechselt und dessen Überlegungen und dadurch persönlichen Zugängen und Entwicklungen unterworfen ist.

Aber ist es nicht problematisch, wenn Parteien dann die historische Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte beschließen?

Der Nationalrat repräsentiert in seiner Gesamtheit die österreichische Bevölkerung. Er beschließt im Konsens die organisatorische Form, während die Leiter der Organisationen mit ihren wissenschaftlichen Beiräten vollkommen unabhängig sind. Ich hätte das nicht vorgeschlagen, wenn ich nicht vom Projekt des Nationalfonds und des Zukunftsfonds überzeugt gewesen wäre. Dort gibt es durch alle repräsentierten Parteien und zusätzlichen Experten in den allermeisten Fällen Einstimmigkeit.

Also keine Beschlüsse mit einfachen Mehrheiten? In Ungarn konnte man ja zuletzt sehen, wo die Anbindung dieser Institutionen an das Parlament hinführt.

Sicher nicht mit Regierungsmehrheiten, sondern mit qualifizierten Mehrheiten müssen hier Beschlüsse gefasst werden. Bei manchen Dingen wird es Dreiviertelmehrheiten brauchen, manche wird man einstimmig beschließen müssen. Oder so lange verhandeln, bis man zu einem Konsens kommt. Der Konsens ist bei uns ein bisschen obsolet geworden.

Ist die Zeitgeschichte dann konsensfähig?

Die wird nie als solches ganz konsensfähig sein. Aber ich könnte mir den Konsens insofern vorstellen, dass viele Wissenschaftler aus verschiedenen Blickwinkeln so etwas wie einen gemeinsamen Konsens herstellen. Was ist denn die gemeinsame Faktenlage? Und schon aus der Auswahl der Fakten betreibe ich natürlich Geschichte. Das ist immer die Frage, wie umfassend ich Quellen einbeziehe. Und ein Mehr an quellenorientierter, wissenschaftlicher Aufarbeitung bringt natürlich ein umfassenderes und klareres Bild. Ich will nicht von Objektivität reden, die gibt es im klassischen Sinne in den Geisteswissenschaften nicht. Aber man muss die unterschiedlichen Standpunkte transparent und deutlich machen. Darin unterscheiden sich die Geisteswissenschaft von den Naturwissenschaften.

Weil Sie neulich Journalisten gefragt haben, wie sehr wir im Reinen mit uns sind, frage ich Sie: Wie sehr sind denn die österreichischen Parteien oder Lager, die schon 1945 eine Rolle gespielt haben, mit ihrer eigenen Geschichte im Reinen?

Ich würde sagen, dass jede Partei einen „immerwährenden“ Handlungsbedarf hat, die einen mehr, die anderen weniger. Der Prozess tut immer noch weh. Er kann nie abgeschlossen sein. Sie sehen dies auch in meiner Fraktion, wo wir als ÖVP den Kunschak-Preis (benannt nach dem Zwischenkriegspolitiker Leopold Kunschak, Anm.) in Mock-Preis umbenannt haben, weil Kunschak sich oftmals antisemitisch äußerte. Ähnlich verhält es sich aber auch mit den Reden Karl Renners, und es ist für mich irritierend, den Parlamentsring noch immer als Dr.-Karl-Renner-Ring benannt zu sehen.

Sie wären hier für eine Umbenennung?

Sofort. Das heißt nicht, dass ich die Person Renners nicht schätzen würde. Die geschichtlichen Verdienste von Personen muss man aber von heute aus anders bemessen als aus der Zeit heraus. Dass der Antisemitismus Luegers oder Renners nicht der Antisemitismus des Jahres 2020 ist, ist gar keine Frage. Ich glaube, dass man Beurteilungsfragen neu stellen muss, wenn es neue Erkenntnisse gibt. Ich kann mir vorstellen, dass man eine Gedenktafel anbringt, die die Gründe für eine Umbenennung nennt. Bei uns heißt ja Umbenennung immer, dass man etwas aus dem geschichtlichen Leben streicht. Die Klitterung der Geschichte ist ein bekannter Vorgang, aber es muss in unserer Zeit aushaltbar sein, Geschichte so darzustellen, wie sie gewesen, ohne sofort Bewertungen vorzunehmen.

Wenn ich am Schluss zum Ausgangspunkt zurückkomme: Wie alt oder jung ist Österreich für Sie? Im Bundesministeriengesetz zum Haus der Geschichte fordert die Novelle aus dem Jahr 2016, dass der Ansatz für das historische Österreich-Bild Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen solle.

Einerseits ist für mich die Verortung mit der Maria-Theresianischen Zeit oder der Mitte des 19. Jahrhunderts in Ordnung. Wenn ich mir andererseits den Artikel 1 in der Bundesverfassung anschaue, der besagt, dass Österreich ein Bundesstaat ist, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesländer jene territorialen Einheiten sind, die schon viel länger Bestand haben und die die ältesten und unversehrtesten Einheiten sind. Die Enns ist seit der Awarenzeit ein Grenzfluss, die March, die Grenze im Osten. Diese Einheiten gehen in Österreich, wenn ich das Land verstehen will, tief ins Mittelalter zurück. Das ist Ur-Österreich und das prägt natürlich auch. Und Bauformen prägen uns. Im Kern der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte ist 1848 und der Anfang des Parlamentarismus aber ein guter Beginn.