Menschen in Brooklyn warten in einer Schlange auf der Straße
APA/AFP/Getty Images/Spencer Platt
Job weg, Krankenversicherung weg

USA im Coronavirus-Teufelskreis

Wegen des enormen Anstiegs der Arbeitslosigkeit in den USA könnten einer Studie zufolge fast 27 Millionen Menschen mitten in der Coronavirus-Pandemie ihre Krankenversicherung verlieren, so eine Studie der Kaiser Family Foundation, die am Mittwoch (Ortszeit) veröffentlicht wurde. Der Grund ist, dass die meisten Menschen dort über den Arbeitgeber krankenversichert sind. In Zeiten der Pandemie trifft der Jobverlust besonders hart.

Nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes in den USA endet die Krankenversicherung über den Arbeitgeber oft sehr schnell. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können es sich dann nicht leisten, die Polizze für sich und etwaige mitversicherte Familienangehörige privat weiterzubezahlen. Die Studie geht davon aus, dass rund 21 Millionen Menschen – Arbeitnehmer und ihre nicht arbeitenden Familienmitglieder, darunter auch rund sechs Millionen Kinder – nach dem Verlust der Versicherung durch den Arbeitgeber auf staatliche Hilfe hoffen müssen. Zudem hätten rund sechs Millionen Menschen gar keinen Anspruch auf Hilfen.

Wegen bürokratischer Hürden und ungenügender Subventionen dürften viele mitten in der Coronavirus-Pandemie ohne Versicherungsschutz bleiben, hieß es. Gerade bei der Ausbreitung der Pandemie in den USA mit einer hohen Totenzahl ist die richtige und nicht allein von finanziellen Mitteln abhängige Betreuung der Erkrankten enorm wichtig.

Menschen warten in einer Schlange auf der Straße vor einem Arbeitsamt
Reuters/Nick Oxford
Menschen ohne Job stellen sich im US-Bundesstaat Arkansas beim Arbeitsamt an

Mehr als 36 Mio. verloren bereits den Job

Die Pandemie macht dem US-Arbeitsmarkt weiter schwer zu schaffen: Seit der Zuspitzung der Krise Mitte März haben mehr als 36 Millionen Menschen ihre Stelle verloren. In der Woche bis zum 9. Mai stellten knapp drei Millionen Menschen einen Erstantrag auf Arbeitslosenhilfe, wie das US-Arbeitsministerium am Donnerstag mitteilte. In den sieben Wochen zuvor hatten bereits mehr als 33 Millionen Menschen solche Hilfe beantragt – so viele wie nie zuvor in derart kurzer Zeit.

Vor der Krise waren die Erstanträge in der größten Volkswirtschaft der Welt zuletzt meist unter 100.000 pro Woche gelegen. Die Anträge gelten als verlässlicher Indikator für die kurzfristige Entwicklung des US-Arbeitsmarkts. Die Areitslosenrate lag im April bei 14,7 Prozent. Wegen Fehlern bei der Erhebung der Daten warnte die zuständige Behörde jedoch, dass die Quote bereits bei etwa 20 Prozent liegen dürfte. Es handelt sich um die dramatischste Lage auf dem Arbeitsmarkt seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor der Zuspitzung der Pandemie in den USA war die Arbeitslosenquote bei niedrigen 3,5 Prozent gelegen.

Stiftung sieht Härtetest für „Obamacare“

Die USA sind praktisch das einzige hochentwickelte Industrieland ohne eine allgemeine staatliche Krankenversicherung. Selbst vor der Coronavirus-Krise hatten rund 28 Millionen Menschen – fast jeder Zehnte im Land – keine Krankenversicherung.

Unter dem früheren Präsidenten Barack Obama wurden die Optionen für eine Krankenversicherung deutlich ausgeweitet. Die Zahl der Menschen ohne Versicherungsschutz war 2010 noch bei rund 46 Millionen gelegen. Das neue System, „Obamacare“, gekoppelt mit einem langen wirtschaftlichen Aufschwung, ließ die Zahl der unversicherten US-Bürger und -Bürgerinnen bis 2018 auf 28 Millionen sinken.

Menschen warten in einer Schlange auf der Straße auf die Essensausgabe
Reuters/Mike Segar
Menschen in Brooklyn warten in einer Schlange auf die Essensausgabe

Doch jetzt steht die Wirtschaft krisenbedingt und zusätzlich wegen des fortdauernden Handelskrieges mit China vor einer schweren Rezession. Das werde ein Härtetest für das immer noch geltende Obama-Versicherungssystem sein, so die Stiftung. Der aktuelle Präsident Donald Trump wollte und will „Obamacare“ gänzlich abschaffen. Das hatte sich Trump auch in seinem ersten Wahlkampf vor vier Jahren auf die Fahnen geschrieben. Bisher ist er damit gescheitert. Trump bewirbt sich im November um eine zweite Amtszeit, und die Abschaffung wird weiter thematisiert.

Biden: „Unsere Verwandten, Freunde und Kollegen“

Der designierte Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, warf Trump vor, selbst angesichts der „größten Gesundheitskrise seit einem Jahrhundert“ weiterhin Parteipolitik und die Interessen der Gesundheitslobby über jene der Menschen in Amerika zu stellen. In der Krise dürfe „Obamacare“ nicht weiter gestutzt werden, so Biden.

Die Menschen, die jetzt ihre Versicherung verlieren könnten, seien keine Statistik, so der Vizepräsident unter Obama. „Das sind unsere Verwandten, unsere Freunde, unsere Nachbarn, unsere Arbeitskollegen, die alle hart gearbeitet haben und sich an die Regeln gehalten haben und jetzt unverschuldet vor katastrophalen Herausforderungen stehen.“

Trump macht Druck für Lockerungen

Schulen und Universitäten in den USA sollten Trump zufolge trotz der Pandemie ab dem Herbst wieder für den Unterricht öffnen. Das neue Schuljahr solle wie geplant losgehen, zumal das Coronavirus „sehr wenig Auswirkungen“ auf jüngere Menschen habe, sagte Trump im Weißen Haus. Die Entscheidung zur Lockerung der Auflagen liege bei den Gouverneuren der 50 Bundesstaaten, Schulen seien dabei aber wichtig. „Ein Staat ist nicht offen, wenn die Schulen nicht geöffnet sind“, sagte Trump. Trump macht weiter Druck auf die Gouverneure, die Coronavirus-Vorschriften zu lockern.

Viele Bundesstaaten haben damit nun begonnen – obwohl die Pandemie in zahlreichen Landesteilen nicht unter Kontrolle ist. Andere Staaten und Städte, darunter zum Beispiel die Hauptstadt Washington und die stark betroffene Metropole New York, wollen ihre Auflagen frühestens im Juni lockern.

Experte warnt: „Dunkelster Winter“ steht bevor

Ein Experte warnte bereits: Den USA könnte wegen eines gleichzeitigen Ausbruchs der Grippe und des Coronavirus nach Ansicht des ranghohen Gesundheitsbeamten Rick Bright der „dunkelste Winter der jüngeren Geschichte“ bevorstehen. Die Zeit für die Regierung, noch rechtzeitig eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Strategie zu planen und umzusetzen, laufe jetzt rasch ab, so Bright in seiner im Voraus verbreiteten Aussage für einen Ausschuss des Repräsentantenhauses. Ohne koordinierte Strategie würde die Pandemie zu Erkrankungen und Todesfällen in noch nie da gewesenem Ausmaß führen, warnte er am Mittwoch.

„Land wegen fehlender Strategie gelähmt“

Bright wurde im April nach eigenen Angaben als Direktor einer dem Gesundheitsministerium untergeordneten Behörde entlassen, weil er sich weigerte, von Trump angepriesene Behandlungsmethoden für die Lungenerkrankung Covid-19 zu unterstützen, die nicht wissenschaftlich belegt waren. Bright wurde auf einen Posten im Nationalen Gesundheitsinstitut (NIH) versetzt. Trump wiederum erklärte damals, er kenne den Beamten gar nicht.

In seiner vorbereiteten Erklärung kritisierte Bright Trumps Pandemiepolitik scharf. Das Land sei wegen Trumps irreführender Kommunikation und einer fehlenden landesweiten Strategie wie gelähmt, sagte er. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssten die Strategie für den Kampf gegen das neuartige Coronavirus definieren, „nicht Politik und Vetternwirtschaft“, schrieb er. „Ohne klare Planung und Umsetzung der Schritte, die ich und andere Experten erläutert haben, wird 2020 der dunkelste Winter der jüngeren Geschichte sein“, warnte er.