Mann mit Maske im Büro
AP/Eugene Hoshiko
Psychische Gesundheit

Japaner profitieren von „Lock-down“

Das japanische Arbeitsleben gilt als extrem belastend: Hoher Leistungsdruck, lange Arbeitszeiten und strikte Hierarchien sind Alltag, dazu kommt das kräftezehrende Pendeln in den überfüllten japanischen Straßen und „Öffis“. Der „Lock-down“ hat diesem Stress vielfach eine Zwangspause verordnet. Nun zeigt sich: Die seelische Gesundheit der Bevölkerung dürfte davon profitiert haben.

Wie der „Guardian“ am Donnerstag unter Berufung auf Zahlen des japanischen Gesundheitsministeriums berichtete, ist die Suizidrate im April gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent gesunken. Dieser Rückgang von 359 Fällen ist der stärkste seit fünf Jahren. Das Ministerium führte die Entwicklung darauf zurück, dass die Menschen geringeren Druck durch den Job verspüren, weniger pendeln müssen und mehr Zeit mit ihren Familien verbringen können.

Zu Beginn der Krise war noch ein starker Anstieg befürchtet worden. Beratungsstellen für seelische Gesundheit hatten im Frühjahr einen enormen Anstieg bei Anfragen zum Coronavirus verzeichnet. Für Sorge hatte deswegen gesorgt, dass zahlreiche Kriseninterventionsstellen aufgrund des Coronavirus ihren Betrieb reduzieren oder ganz einstellen mussten.

Menschen mit Masken in der U-Bahn in Tokio
APA/AFP/Kazuhiro Nogi
Auch die öffentlichen Verkehrsmittel in Japan haben sich in den vergangenen Wochen geleert

Schulen als Faktor

Auch die Beratungsstelle Inochi no Denwa führte den Rückgang laut dem „Guardian“ zumindest teilweise auf das verlangsamte öffentliche Leben zurück. Psychisch entlastet würden durch dieses nicht zuletzt auch Schülerinnen und Schüler, die damit von Leistungsdruck und Mobbing befreit würden: „Die Schule sorgt für erheblichen Druck bei vielen jungen Menschen. In diesem April gibt es diesen Druck nicht. Zu Hause bei ihren Familien fühlen sie sicher.“

Hilfe im Krisenfall

Berichte über (mögliche) Suizide können bei Personen, die sich in einer Krise befinden, die Situation verschlimmern. Die Psychiatrische Soforthilfe bietet unter 01/313 30 rund um die Uhr Rat und Unterstützung im Krisenfall. Die österreichweite Telefonseelsorge ist ebenfalls jederzeit unter 142 gratis zu erreichen.

Die Organisation verwies aber auch darauf, dass Suizidzahlen in Krisenzeiten traditionell niedriger seien, weil „Erwachsene in diesen Zeiten nicht an Suizid denken“. Das sei auch bei dem Tsunami und Atomunfall in Fukushima im Jahr 2011 der Fall gewesen. Ein größeres Risiko wären die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Krise. In den vergangenen Jahrzehnten waren Suizide in Japan eng mit wirtschaftlichen Krisen verknüpft.

Großes gesellschaftliches Problem

Suizide gelten in Japan als erhebliches gesellschaftliches und kulturell verwurzeltes Problem. Der Inselstaat gehört seit den 1990er Jahren zu den Ländern mit den weltweit höchsten Raten. Eine Spitze wurde 2003 mit 34.000 Fällen infolge einer Wirtschaftsflaute erreicht, seitdem sinken die Zahlen wieder kontinuierlich. Die japanische Regierung hatte 2016 ein Präventionsprogramm gestartet, mit dem unter anderem Beratungsstellen gegründet wurden und das die Enttabuisierung bei psychischen Erkrankungen vorantreiben sollte.

Menschen mit Masken in Tokio
APA/AFP/Charly Triballeau
Überarbeitetsein ist in Japan weit verbreitet

Es wurden aber auch Maßnahmen eingeleitet, die Ausbeutung am Arbeitsplatz reduzieren sollten. Denn Suizide, die infolge psychischer Probleme durch Arbeitsbelastung begangenen werden, haben in Japan sogar einen eigenen Namen: Karojisatsu. In den letzten Jahren hatte es zahlreiche Klagen von Angehörigenfamilien gegen Firmen gegeben, die in solchen Fällen Kompensation verlangen. Unter anderem deswegen versuchte die Regierung auch, die arbeitsrechtlichen Bedingungen zu verbessern und unter anderem die Arbeitszeit zu begrenzen. Für viele Arbeitskräfte sind die Bedingungen aber weiterhin extrem.

Notstands vielerorts aufgehoben

Vielerorts dürfte das normale Leben langsam auch wieder Fahrt aufnehmen, denn das Land hob am Donnerstag den Covid-19-Notstand in 39 von 47 Provinzen vorzeitig auf. Ausgenommen sind städtische Großräume wie Tokio und Osaka. Man habe die Situation so eingedämmt, dass eine Ausbreitung des Virus verhindert werden könne. Premierminister Shinzo Abe rief die Bevölkerung aber auf, die Kontakte zu anderen trotzdem weiter einzuschränken.

Der Notstand hätte eigentlich überall noch bis zum 31. Mai gegolten. Harte Ausgangsbeschränkungen wie in Europa hatten die Beschränkungen nicht bedeutet. Die Bürgerinnen und Bürger sind nur gebeten, möglichst zu Hause zu bleiben. Unternehmen sollten sich ebenfalls entsprechend verhalten. Viele Firmen schickten ihr Personal ins Homeoffice, das in Japan nicht sehr verbreitet ist.

Insgesamt verzeichnet Japan bisher mehr als bestätigte 16.900 Infektionen und rund 720 Tote. Das Land hat zwar wirtschaftlich einen ähnlich harten Einbruch durch die Krise erlebt wie andere Länder, gegen den sich die Regierung mit Milliardenausgaben stemmen will. Beim Wiederanfahren des gesellschaftlichen Lebens steht die Nummer drei der Weltwirtschaft nach Einschätzung von Experten aber besser da als Länder mit einem strikteren „Lock-down“.