Deutsche Kanzlerin Angela Merkel
Reuters/ Michel Kappeler
Krise, Berlin, Brüssel

Merkels vielleicht letztes Meisterstück

Mitten in einer der schwersten Situationen der EU übernimmt Deutschland demnächst den Ratsvorsitz. Dabei standen bereits zuvor mehrere Riesenthemen auf der Berliner To-do-Liste. Nun wird alles – von Brexit über Asyl- und Klimapolitik bis EU-Budget – von der CoV-bedingten tiefen Rezession überschattet. Darin liegt aber auch eine Chance, die Merkel für ihr vielleicht letztes Meisterstück nützen könnte.

Die Coronavirus-Krise habe „alles auf den Kopf gestellt“, räumte Merkel selbst dieser Tage ein. Doch die Langzeitkanzlerin, die noch vor wenigen Monaten den Eindruck vermittelte, sie habe den Zenit längst überschritten, erhielt durch ihren Umgang mit der Pandemie neuen Aufschwung: Mit ihrer ruhigen und besonnenen Art vermittelte sie in der Krisensituation nicht nur dem Gros der eigenen Bevölkerung, sondern auch darüber hinaus, ein Gefühl der Sicherheit.

Und anders als in vielen Situationen in der Vergangenheit will Merkel nicht nur in der Abwendung der unmittelbaren Gesundheitsgefahr, sondern auch in der Aufarbeitung der dramatischen wirtschaftlichen und politischen Folgen rasch Nägel mit Köpfen machen. Sie will die Krise ganz bewusst dazu nützen, dem europäischen Einigungsprozess insgesamt einen Schub zu geben.

Die konservative Politikerin will die Folgen der Pandemie mit einer stärkeren Zusammenarbeit in Europa bewältigen. „Europa kann aus der Krise stärker hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist“, so die Kanzlerin dieser Tage bei einer Onlinediskussion der Konrad-Adenauer-Stiftung zum bevorstehenden EU-Ratsvorsitz ab 1. Juli. Es ist das bekannte Credo all jener, die nach 1945 die Verwüstungen der zwei Weltkriege für alle Zukunft ausschließen wollten und wollen.

Absage an Kleinstaaterei

Die Pandemie zeige, dass grundlegende Veränderungen kurzfristig Entscheidungen mit langfristigen Wirkungen nötig machten. Die Verantwortung dürfe deswegen nicht an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen. Das Programm des Vorsitzes wird in den nächsten Wochen nochmals völlig umgekrempelt. Während der sechs Monate leiten die deutschen Vertreterinnen und Vertreter alle Beratungen der Minister und auf Beamtenebene.

Traditionell versucht das Vorsitzland, nicht eigene Positionen zu forcieren, sondern Kompromisse zwischen den verschiedenen Lagern zu finden. Darüber hinaus bietet der Vorsitz die Möglichkeit, selbst Schwerpunkte zu setzen und Themen auf den Weg zu bringen – die dann freilich oft erst Monate oder Jahre später in konkrete Maßnahmen münden. Das deutsche Verhandlungsgeschick, Interessenausgleiche zu finden, wird entscheidend dafür sein, ob es Merkel gelingt, mehrere große Pflöcke einzuschlagen.

Videokonferenz von Angela Merkel und Emmanuel Macron
Reuters/ Kay Nietfeld
In einer Videoschaltung präsentierten Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron ihren Aufbauplan

EU-Budgetrahmen und Brexit

Vordringlich – neben der Bewältigung der Folgen der Krise – ist vor allem eine längst überfällige Einigung auf den siebenjährigen Budgetrahmen der EU. Der neue Zyklus beginnt 2021. Die vorangegangenen Vorsitzländer seit 2018, darunter Österreich, haben zahlreiche Vorarbeiten geleistet, der Durchbruch steht aber noch aus. Hier blockieren mehrere Nettozahlerländer, darunter Österreich, bisher eine Einigung.

Neue Dynamik durch Tabubruch

Die Vorzeichen dafür haben sich hier durch die tiefe Rezession und die drohende ökonomische Spaltung der Union stark verändert. Beide Themen – Wiederaufbau und EU-Budget – werden eng miteinander verknüpft. Das Verharren auf bekannten Positionen, etwa der vier Nettozahlerländer mit Österreich, könnte angesichts der neuen Dynamik politisch schwierig werden. Die Ländergruppe hat sich zunächst gegen den Umfang und dann dagegen gewehrt, dass für die nichtrückzahlbaren Hilfen von den EU-Staaten gemeinsam Kredite aufgenommen werden.

Deutschland, selbst im Lager der wohlhabenden und stets aufs Sparen bedachten Staaten, hat mit dem Vorstoß für einen 500-Milliarden-Euro-Hilfsfonds bereits eine Steilvorlage geliefert. Es ist ein Tabubruch: Denn Merkel tritt nun für Milliardenhilfen ein, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Und das Geld soll von der EU gemeinsam als Kredit aufgenommen und zurückgezahlt werden.

Das wäre jedenfalls eine neue Stufe der Solidarität – von Gegnern stets negativ als „Transferunion“ bezeichnet. Der Kompromiss dabei: Die Hilfen, die eben überwiegend keine Kredite mehr sein sollen, sollen zeitlich befristet und nicht dauerhaft sein. Genau genommen ist die EU naturgemäß seit jeher eine Transferunion – und das nicht nur bei der Landwirtschaft oder dem Regionalfonds. Eine Einigung auf die deutsche-französische Initiative könnte hier eine langfristige Weichenstellung bringen.

Motto und Möbiusband

„Gemeinsam. Europa wieder stark machen“ lautet das Motto des deutschen EU-Vorsitzes. Als Logo dient das Möbiusband – es soll Einigkeit und Verbundenheit symbolisieren.

Beziehungen nach der Scheidung

Ebenfalls bis Jahresende muss mit Großbritannien eine Einigung erzielt werden, wie die künftigen Beziehungen aussehen werden – vom Zugang zum Binnenmarkt und der Mitgliedschaft in mehreren internationalen Abkommen bis zur irischen Grenze gibt es noch zahlreiche Stolpersteine und offene Fragen. Ob sich eine Einigung rechtzeitig ausgeht, ist noch völlig offen. Eine Verlängerung des Status quo, um mehr Zeit für die Verhandlungen zu haben, lehnt der britische Premier Boris Johnson, dessen Land von der Coronavirus-Pandemie besonders stark betroffen ist, bisher strikt ab.

Weitere zentrale Themen sind der Klimaschutz und das europäische Asylsystem. Vor allem der Klimaschutz soll ebenfalls mit dem Wiederaufbau und dem EU-Budgetrahmen verknüpft werden. Abzuwarten bleibt, wie sehr es gerade dem Autoland Deutschland gelingt, auf das Innovationspotenzial einer „grünen Wirtschaft“ zu setzen.

Tandem auf drei Ebenen

Auffallend ist, wie sehr Berlin versucht, den jahrelang eher stotternden deutsch-französischen Motor wieder auf Hochtouren zu bringen. Auf drei entscheidenden Ebenen funktioniert hier derzeit die Kooperation: Begonnen hat es mit dem Wechsel im deutschen Finanzministerium von Wolfgang Schäuble (CDU), der in der Euro-Zonen-Krise einen harten Kurs gegenüber Griechenland fuhr, hin zum Sozialdemokraten Olaf Scholz.

Er baute ein mittlerweile enges Vertrauensverhältnis zu seinem französischen Gegenüber Bruno Le Maire auf. Sie starteten gemeinsam bereits mehrere finanzpolitische Initiativen und waren an der Ausarbeitung des aktuellen Hilfsprogramms entscheidend beteiligt.

Dazu kommt die Annäherung von Merkel an Macron. Sie hatte zuvor dessen inhaltliche Vorstöße für ein starkes Europa – von einem Wettbewerbsrecht, das europäische Unternehmen bevorzugt, bis hin zu einem Europäischen Sicherheitsrat und einer europäischen Asylbehörde – mehrmals ins Leere laufen lassen.

Parlamentspräsidenten für „neuen Schuman-Plan“

Und jüngst starteten zudem die Parlamentspräsidenten beider Länder einen gemeinsamen Appell, Europa zu erneuern. Bundestagspräsident Schäuble und der Präsident der Nationalversammlung, Richard Ferrand, forderten „die richtigen Weichenstellungen“ durch ihre beiden Regierungen zur Erholung Europas.

Dafür brauche es eine grundsätzliche Neuaufstellung – in Anlehnung an den Gründervater der Europäischen Union sprachen Schäuble und Ferrand von einem „neuen Schuman-Plan“. „Fehler und Übertreibungen der Globalisierung“ dürften dabei nicht fortgesetzt werden. Zugleich müssten Maßnahmen zum Erreichen des Klimaneutralitätsziels gefördert werden.

Historisch gesehen waren es stets Vorstöße des deutsch-französischen Tandems, die die EU stärker zusammenwachsen ließen. Dass Merkel die Achse mit Paris aktiv stärkt, ist einerseits Realpolitik. Andererseits ist es auch ein Hinweis, dass sie bei der Einigung Europas einen nächsten Schritt gehen will.