Katze mit einem Rollstohl
ORF
Silikonhoden und Gehbehelf

Tiermedizin zunehmend „menschlicher“

Die moderne Beziehung des Menschen zum Tier bringt Tierethikerin Kerstin Weich so auf den Punkt: „Die einen verschwinden in den Mastanlagen, die anderen ziehen in die Wohnungen der Bürgerinnen und Bürger ein und werden dort ordentlich verwöhnt.“ Augenfällig wird das im Bereich der Medizin: Von angepassten Gehbehelfen, über Nasen-OPs bis Silikonhoden wird hier nicht weniger investiert als bei Menschen.

So kommt es beispielsweise vor, dass, wer eine große Dogge besitzt, sich nach der Kastration Hodenimplantate aus Silikon für das Tier wünscht – damit das Männchen zumindest noch männlich aussieht, nachdem es seiner Männlichkeit beraubt wurde.

Solche Wünsche kennt man in der Tierarztpraxis von Irene Pucher-Bühl und Herwig Pucher (Tier plus). Die meisten Anliegen der Frauchen und Herrchen sind verglichen damit aber ganz normal. Haustiere werden immer älter, und das schlägt sich auch in ihren Leiden nieder, erklärt Pucher-Bühl: „Es treten klassische Stoffwechselerkrankungen auf wie Diabetes, aber auch altersbedingte Erkrankungen, Gelenkschäden, sehr häufig auch Tumorerkrankungen, die aber mittels Chemotherapie behandelt werden können.“ Für Haustiere geben Menschen jährlich durchschnittlich 1.500 Euro aus. Gute medizinische Betreuung kostet Geld, eine Computertomografie beispielsweise 200 bis 600 Euro.

Angezüchtete OP-Notwendigkeit

Neben Problemen, die jenen von Menschen ähneln, gibt es auch „angezüchtete“. Kardiologin Ursula Hofer untersucht beim Besuch des ORF etwa den Mops Taori. Frauchen Samira erklärt das Problem der Hündin: „Sie hat wirklich sehr schwer geatmet, richtig geröchelt. Das hat sie so noch nicht gehabt, obwohl sie jetzt schon elf Jahre alt ist, und das hat mir Sorgen gemacht.“ EKG und Ultraschall bringen Klarheit: Taoris kurze Nase erschwert das Atmen, das verursacht über die Jahre Herzprobleme.

Das ist mit einer Routineoperation behandelbar. Eine kurze Nase gilt bei Möpsen und Bulldoggen als schön – aus menschlicher Perspektive, nicht aus der des Hundes. Hunde mit solchen Nasen werden gezielt gezüchtet, aber die Tiere leiden darunter.

Kinderwunschmedizin „aus dem Kuhstall“

Dass eine umfassende medizinische Betreuung von Haustieren immer selbstverständlicher wird, beobachtet auch Tierärztin Hofer: „Als ich mit der Kardiologie angefangen habe, fanden die Leute einen Herzultraschall bei einer Katze oder einem Meerschweinchen abwegig. Jetzt ist das Standard.“

Es geht dabei um eine Grundsatzfrage, wie die Tierethikerin Kerstin Weich im Gespräch mit dem ORF erklärt: „Die Frage, ob man auch einem Tier so etwas wie eine Menschenmedizin geben darf, geht davon aus, dass Medizin überhaupt etwas für Menschen ist, das dann auf Tiere übertragen wird.“ Das sei aber nicht der Fall, denn der Wissenstransfer zwischen Human- und Veterinärmedizin geht in beide Richtungen: „Alles, was wir jetzt in der Kinderwunschmedizin für uns Menschen haben, kommt eigentlich aus dem Kuhstall.“ Dort nahm die moderne Reproduktionsmedizin ihren Anfang.

Mops beim Tierarzt
ORF
Mopsen wurden kurze Nasen angezüchtet – mit bösen Folgen für die Tiergesundheit

Kinderersatz – oder Schnitzel

Bewegungstherapie kommt dagegen aus der Humanmedizin. So gibt etwa Katja rund 250 Euro im Monat für die Unterwassertherapie ihrer Hündin Mina aus. Die Tibet-Spaniel-Hündin hat seit ihrer Geburt Probleme mit dem Bewegungsapparat. Durch die Therapie auf einem Unterwasserlaufband wird ihre Muskulatur gestärkt, ohne dass die Gelenke überstrapaziert werden. Den finanziellen Aufwand scheut Katja nicht: „Es geht ihr gut dabei, und das ist mir wichtig.“

Dass Gesundheit und Wohlbefinden der Haustiere in den letzten Jahrzehnten einen immer höheren Stellenwert bekommen haben, führt Tierethikerin Weich unter anderem darauf zurück, dass sich das gesellschaftliche Zusammenleben verändert hat: „Es gibt nicht mehr so viele Kontakte und Beziehungen, sondern stattdessen eher vereinzelte Menschen, die alleine in den Wohnungen leben.“

Die Großfamilie war gestern. Heute würden Tiere auch als Familienersatz für vereinzelte urbane Bürgerinnen und Bürger dienen, sagt Weich: „Die Menschen nehmen sich heraus zu entscheiden, welches Tier sie wie nutzen, entweder als Kindersatz oder als Schnitzel auf dem Teller.“