Charlotte Perriand ausgestreckt auf der Chaise longue basculante, 1930
Archiv Charlotte Perriand/Elisabeth Sandmann
Charlotte Perriand

Designikone im Schatten der Machos

Das Leben der französischen Designerin, Architektin und Fotografin Charlotte Perriand war geprägt von Mut, Gemeinschaftssinn und zwangsweisen Neuanfängen. Ihr berühmtester Entwurf ist gar nicht unter ihrem Namen bekannt: Die „Corbusier-Liege“ entstand großteils nach ihren Zeichnungen. Nun schildert eine Biografie ihren Werdegang.

„Wir besticken hier keine Kissen“, antwortete Le Corbusier ihr abschätzig, als sich Charlotte Perriand bei ihm 1927 bewarb. Er war damals längst berühmter großer Architekt, Designer und Theoretiker, sie bewunderte ihn für die Kühnheit seiner Entwürfe. Sie war gerade 24 Jahre alt und hatte soeben beim Pariser Herbstsalon mit einer avantgardistischen Wohnzimmerbar Aufsehen erregt: Stahlrohrmöbel, Metallfronten, Ausnutzung des Raums unter einer Dachschräge. Le Corbusier kannte ihre Bar und wusste, dass sie es verstand, Räume zu gestalten, aber die Zusammenarbeit mit Frauen war ihm fremd.

Perriand hatte ihr Handwerk an der Kunstgewerbeschule gelernt, ein Hochschulstudium war ihr als Frau nicht zugänglich. In Le Corbusiers Büchern las sie „Der Augenblick der Proportionen ist gekommen“ und fühlte sich angesprochen. Le Corbusier griff schließlich doch zu und holte sich damit für zehn Jahre eine Assistentin, später gleichberechtigte Mitarbeiterin. Er brauchte sie für die Innengestaltung seiner Häuser dringend, denn er selbst hatte dafür kaum Zeit. Und sie arbeitete zunehmend autonom: Sie entwickelte in ihrem Atelier Möbelentwürfe, legte sie dann ihm und seinem Cousin Pierre Jeanneret vor, zu dritt signierten sie.

Fotostrecke mit 7 Bildern

Inneneinrichtung von Perriand in der Villa La Roche
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris, 2019
Inneneinrichtung von Charlotte Perriand in der Villa La Roche
Entwürfe von Charlotte Perriand
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris, 2019
Entwürfe von Charlotte Perriand für einen Kindergarten
Entwürfe von Charlotte Perriand
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris, 2019
Die „Bar sous le toit“, die Perriand mit 24 Jahren beim Pariser Herbstsalon präsentierte
Charlotte Perriand studiert mit Möbeltischlern die Herstellung eines
Tisches aus Kiefernbrettern, 1940
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris
Perriand studiert mit japanischen Möbeltischlern die Herstellung eines Tisches aus Kiefernbrettern, 1940
Charlotte Perriand ausgestreckt auf der Chaise longue basculante, 1930
Archiv Charlotte Perriand/Elisabeth Sandmann
Charlotte Perriand, ausgestreckt auf der Chaise longue basculante, 1930
Charlotte Perriand beim Abseilen vom Massif des Evettes, 1927
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris
Perriand beim Abseilen vom Massif des Evettes, 1927
Charlotte Perriand auf Kanufahrt auf den Balearen, 1932
Archiv Charlotte Perriand (AChP) Adagp, Paris
Perriand auf Kanufahrt auf den Balearen, 1932

Wer hat die Eleganz erfunden?

Einer dieser Entwürfe war die „Corbusier-Liege“, anfangs aufgrund ihrer Schlichtheit wenig populär, inzwischen längst Prestigeobjekt. „Der Patentantrag für die berühmte Chaiselongue aus dem Jahr 1928 trug zunächst die Namen der Erfinder in der Reihenfolge ihres Anteils an der Entwicklung: Charlotte zuerst, dann Le Corbusier, dann Jeanneret“, schreibt die französische Autorin und Biografin Laure Adler.

„Le Corbusier ändert die Reihenfolge dann jedoch in die angeblich logischere alphabetische, setzt seinen Namen damit an die erste Stelle“ – und bei der Neuauflage des Möbelstücks 1959 war Charlotte Perriands Autorenschaft ganz verschwunden. Das Trio Le Corbusier, Perriand und Jeanneret war zu diesem Zeitpunkt unzertrennlich. Perriand erinnerte sich an diese Zeit als „fruchtbar“, es ging ihr um die Sache, nicht um ihre Karriere.

Die Anerkennung als Schöpferin des Mobiliars war für sie selbstverständlich, doch sie wollte mehr als nur Inneneinrichtungen gestalten. Ihre Arbeit verknüpfte sie mit einem unbedingten sozialen Engagement. Sie fotografierte viel und nutzte immer wieder Fotocollagen als Gestaltungselemente, oft in Zusammenarbeit mit ihrem Freund Fernand Leger. Inspiration kam auch von einer Reise nach Sowjetrussland. Perriand forderte eine Neudefinition dessen, was eine Stadt ausmachte, wollte Grüngürtel um jede Fabrik und Parks in allen Wohngebieten.

Ein erzwungener Neuanfang

1937 wurde sie als Beraterin für Industriekunst nach Japan eingeladen, nahm freudig an, brach 1940 auf. Nach erfüllenden, doch auch persönlich erschöpfenden Jahren konnte sie erst 1946 nach Paris zurückkehren, mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm. „Meine Arbeit wurde sinnlos“, notierte sie über die Zeit. „Ich fühlte mich eher fähig, eine Stadt zu bauen, als einen Säugling großzuziehen.“ Nun bezahlte sie für ihre Bescheidenheit im Team von Le Corbusier: Der Name „Perriand“ galt nichts, und ohne Hochschulstudium durfte sie nicht als Architektin arbeiten. Sie musste in Frankreich von vorne beginnen, durfte erneut nur Möbel gestalten, arbeitete wieder mit Le Corbusier zusammen, auch mit Jean Prouve.

Buchcover
Elisabeth Sandmann Verlag

Charlotte Perriand – Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau. Designerin, Fotografin, Visionärin. Mit einem Vorwort von Arthur Rüegg. Laure Adler, Übersetzt von Martin Bayer. Gebunden, 192 S., Verlag Elisabeth Sandmann, 45,30 Euro.

Es könnte zornig machen, wie Perriand immer wieder zum Neuanfang gezwungen war, wie ihre Verdienste übersehen wurden. Zugleich ist es mitreißend, wie freudig und lebensbejahend diese sehr freie Frau die Herausforderungen anging, die ihr entgegenstanden. Als Designerin, Architektin und Fotografin ist Perriand bis heute einflussreich. Ihre Entwürfe machen immer wieder deutlich, wie sehr sie vom Menschen ausgeht, der den Entwurf benutzen wird, und nicht vom Auftraggeber, der bezahlt.

Das gilt für die richtungweisenden Einrichtungen für Kindergärten und Obdachlosenheime aus den 30er Jahren, wo jeder Übernachtungsgast beim Stockbett ein eingebautes Regal für die wichtigsten Habseligkeiten hatte, ebenso wie bei ihrer Arbeit am Skiresort „Les Arcs“ aus den späten 60er Jahren, das mit seinen kleinen Wohneinheiten und praktischen Möblierungen den elitären Skisport auch für weniger begüterte Menschen leistbar machen sollte.

Kein Geheimtipp

Die Übersetzung von Laure Adlers Buch kommt kurz nach einer Retrospektive in der Fondation Louis Vuitton in Paris unter dem Titel „Inventing A New World“, die bis Februar gelaufen ist – Perriand ist längst wiederentdeckt, gilt als Grande Dame des französischen Designs. In Adlers Buch geht es aber nicht nur um ihr gestalterisches Werk und ihre fotografischen Arbeiten: Adler zeichnet die bewegte Lebensgeschichte einer neugierigen und mutigen Frau nach, die Beziehungen und Freundschaften zu vielen zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, Parallelen und Widrigkeiten. „Vor einem schönen weißen Blatt Papier wäre ich gerne noch mal zwanzig“, sagte Perriand noch 1987. Da war sie 84 Jahre alt – und hatte zwölf Lebensjahre vor sich.