Junge Menschen mit Schutzmaske in einem Einkaufszentrum in Neu-Delhi (Indien)
Reuters/Anushree Fadnavis
Viele Neuinfektionen

Öffnung stellt Indien vor Dilemma

Indien steuert in der Coronavirus-Krise auf noch schwierigere Zeiten zu. Die strengen Einschränkungen vom Mai raubten vielen Inderinnen und Indern ihre Lebensgrundlagen. Die Lockerungen führen nun aber zu einem starken Anstieg der Neuinfektionen, die Indiens Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnten – oder darüber hinaus.

Es war kein freudiger Rekord, den Indien am Donnerstag vermelden musste: Bereits den dritten Tag in Folge waren innerhalb von 24 Stunden fast 10.000 neue Infektionen offiziell registriert worden. Laut der Johns-Hopkins-Universität verdoppelt sich zurzeit die Zahl der Infizierten fast alle 16 Tage. In kaum einem Land breitet sich das Virus zurzeit schneller aus als in Indien. Besonders schlimm betroffen sind die Metropolen Mumbai, Delhi und Chennai.

Erst am Dienstag warnte die Stadtregierung Delhis vor einem sprunghaften Anstieg der Coronavirus-Infektionen und einer Überforderung des Gesundheitssystems. Die gegenwärtig fast 29.000 Fälle dürften bis Ende Juli auf 550.000 steigen, sagte Vizechefminister Manish Sisodia. Bis dahin würden 80.000 Betten benötigt, vorhanden seien jedoch weniger als 9.000. Der Anstieg der Fallzahlen könne für Delhi „ein großes Problem“ werden. Bereits jetzt sind in der Metropole die Hälfte der Krankenhausbetten, die für Covid-19-Patienten vorgesehen sind, belegt. „Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe“, sagte Harjit Singh Bhatti, Präsident des Progressive Medicos and Scientists Forum, gegenüber der Nachrichtenagentur AP.

Schrittweise Öffnung seit Mai

Indien mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern hatte im März strenge Einschränkungen erlassen, um einer Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. Im Laufe des Mais begann eine schrittweise Lockerung. Einzelne Geschäfte, Märkte und Teile des öffentlichen Verkehrs nahmen den Betrieb wieder auf. Seit 8. Juni dürfen in den meisten Teilen des Landes nun auch Büros, Einkaufszentren und Gotteshäuser wieder öffnen. In Mumbai bleiben sie allerdings noch geschlossen.

Personen in Schutzmasken gehen durch ein Armenviertel in Dharavi (Indien)
Reuters/Francis Mascarenhas
In einem Slum in Mumbai kontrollieren Behördenvertreter die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen

Zugesperrt bleiben derzeit auch noch Schulen und Hotels – und das landesweit. Das öffentliche Leben nahm in den vergangenen Tagen und Wochen aber unverkennbar wieder Fahrt auf – und damit stieg auch die Zahl der Neuinfektionen. Zugleich sehen die meisten aber kaum eine Alternative zum Wiederhochfahren der Wirtschaft. Der zehnwöchige „Lock-down“ raubte vielen Inderinnen und Inder ihre Lebensgrundlage. Zum traurigen Symbol für das Drama wurden die Zehntausenden Wanderarbeiter, die sich zu Fuß auf den Weg in ihre Heimatdörfer machten. Dutzende von ihnen überlebten den tagelangen Fußmarsch nicht.

„Vertrackte Situation“

Indiens Premierminister Narendra Modi verteidigte die Entscheidung für die strengen Maßnahmen. In einer im Fernsehen übertragenen Rede sprach er davon, dass die Opfer der Inder „die Nation gerettet“ hätten. Aber zugleich stellte er sich hinter die nunmehrigen Öffnungsmaßnahmen.

„Es ist eine vertrackte Situation“, zitierte die „New York Times“ („NYT“) die indische Gesundheitsökonomin Indrani Gupta. „Unsere Wirtschaft ist so abhängig von der Arbeit, dass Millionen ihren Lebensunterhalt und sogar ihre Leben verloren hätten, wenn der ‚Lock-down‘ noch Monat um Monat gedauert hätte“, so Gupta. Laut der Gesundheitsökonomin kamen die Einschränkungen der Regierung im März allerdings zu schnell und zu unmittelbar – und fielen zu streng aus. Sie jetzt so schnell aufzuheben, sei aber auch ein Fehler.

Eine Verlängerung des wirtschaftlichen „Lock-down“ wäre nicht sinnvoll gewesen, sagte hingegen der indische Medizinethiker Anant Bhan gegenüber der deutschen „taz“. Es brauche für Indien eine stärker lokal ausgerichtete Strategie, die sich vor allem auf Daten und Fakten und die Beteiligung der Öffentlichkeit stützen müsse. Dazu würde allerdings auch gehören, die Testkapazitäten zu erhöhen. Das passiere aber zu wenig, werfen Kritiker der Regierung vor.

Streit über Spitalsbetten in Delhi

„Bis die Regierung nicht ihre Gesundheitsausgaben erhöht, wird sich nichts ändern. Viele Menschen werden sterben“, sagte Mediziner Bhatti. Es brauche „starke politische Einscheidungen, nicht nur in Delhi, sondern in ganz Indien, um den Schaden zu minimieren“. Doch solche Entscheidungen lassen zurzeit auf sich warten.

Vielmehr lieferten sich zuletzt Modis Regierung und die Stadtverwaltung von Delhi einen Konflikt darüber, wer in den Krankenhäusern der Stadt behandelt werden dürfte. Delhis Stadtregierung, die von der Aam Aadmi Party geführt wird, wollte die Krankenhäuser exklusiv für Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt öffnen. Dem widersprach die indische Zentralregierung – und setzte sich am Ende auch durch.

Die von Delhis Stadtverwaltung geplanten Einschränkungen seien tatsächlich nicht akzeptabel gewesen, sagte Medizinethiker Bhan gegenüber AP. Viele Menschen im Norden Indien seien von den medizinischen Einrichtungen in der Hauptstadtregion abhängig. Es sei aber „sicher nicht ideal“, dass Zentral- und Stadtregierung während einer öffentlichen Gesundheitsskrise über Kreuz lägen. Vielmehr müssten die Veranwortlichen zusammenarbeiten, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.