Mann in Schutzanzug vor gemalter brasilianischer Flagge
APA/AFP/Carl De Souza
Brasilien

Kein Ende der ersten Welle in Sicht

Brasilien entwickelt sich mit mehr als 923.000 bestätigten Coronavirus-Fällen und rund 45.000 Toten zum weltweiten Hotspot nach den USA. Während viele andere Länder sich nach der ersten Ansteckungsphase bereits auf die zweite Welle vorbereiten, hat Brasilien die erste noch nicht überwunden. Die Regierung setzt indirekt auf Massenimmunisierung, doch ist sie davon noch meilenweit entfernt.

Wie die "Washington Post („WP“) schreibt, handle das größte Land Lateinamerikas in der Krise einzigartig. Es habe nie einen großräumigen „Lock-down“ gegeben, nie einen Plan, großräumige Testungen durchzuführen. Das Gesundheitssystem sei marode und auf Informationskampagnen sei verzichtet worden. Das habe zu einem sprunghaften Anstieg mit Tausenden Toten und Hunderttausenden Infizierten geführt, wie Gesundheitsexpertinnen und -experten urteilen.

Carlos Machado, ein leitender Wissenschaftler der renommierten brasilianischen Oswaldo-Cruz-Stiftung, wählte warnende Worte. Auf Ersuchen von Beamtinnen und Beamten aus Rio de Janeiro hatte sein Team eine Liste mit Empfehlungen zur Bekämpfung der Coronavirus-Krise zusammengestellt. Machado prognostizierte bereits vor Wochen, was passieren würde, wenn die Stadt nicht sofort eine vollständige Abriegelung durchsetzen würde.

Graffiti zeigt Jair Bolsonaro
Reuters/Amanda Perobelli
Ein Graffiti in Sao Paolo: Präsident Jair Bolsonaro zieht an einem Strang mit dem personifizierten Coronavirus

„Es würde zu einer menschlichen Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes führen“, warnte Machado in seinem Bericht Anfang Mai. Doch hörte Rio weder auf Machado noch auf andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – zumindest nicht auf jene, die eindringlich vor dem Virus gewarnt hatten.

„Wir tun etwas, was sonst niemand getan hat“

Vielmehr beschlossen die am härtesten betroffenen Städte Brasiliens – darunter Rio de Janeiro und Sao Paolo – sogar, jene geschlossenen Einkaufszentren und Kirchen wieder zu öffnen. Diese Entscheidung folgte aber nicht wie in anderen Ländern zu einem Zeitpunkt der sinkenden Ansteckungszahlen. Denn pro Tag verzeichnet Brasilien 30.000 neue Fälle – fünfmal mehr als Italien zu Spitzenzeiten.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sorgen sich unterdessen darum, dass es keinen Vergleich gebe, wie man in der jetzigen Phase der ersten Welle, die sich nicht abzuschwächen scheint, handeln soll. „Wir tun etwas, was sonst niemand getan hat“, so Pedro Hallal, Epidemiologe an der Universität von Pelotas (UFPEL) zur „WP“. „Wir nähern uns dem Höhepunkt der Kurve, und es ist, als würden wir das Virus fast herausfordern: ‚Lass uns sehen, wie viele Menschen du infizieren kannst! Wir wollen sehen, wie stark du bist!‘“ Er verglich das Vorgehen der Regierung mit einem Pokerspiel.

Zahlen werden nur eingeschränkt veröffentlicht

Forscherinnen und Forscher der Washington-Universität in Seattle rechnen damit, dass Brasilien Ende Juli die USA in puncto Coronavirus-Todesfälle überholen wird. Das Land dürfe sich keine weiteren Fehler mehr erlauben. Doch dass sich etwas zum Besseren ändern könnte, darauf deutet nichts hin. Der rechtspopulistische Präsident Bolsonaro spielt die Krankheit und ihre Opfer weiterhin herunter und forciert eine passive Gesundheitspolitik. Er greift Gouverneure, die für restriktive Maßnahmen gegen das Virus plädieren, als korrupte Lügner an.

Seit dem Wochenende waren auf der Website des Gesundheitsministeriums für Coronavirus-Statistiken nur noch täglich die in den vorherigen 24 Stunden neu registrierten Zahlen und nicht mehr die Gesamtzahlen von Infizierten und Todesopfern bekanntgegeben worden. Ein Richter des obersten Gerichts forderte anschließend die Regierung auf, die Coronavirus-Zahlen wieder komplett und auf der Seite des Gesundheitsministeriums zu veröffentlichen. Der Staat sei dazu verpflichtet, so Richter Alexandre de Moraes.

Bolsonaro entließ Gesundheitsminister

Um die Meinung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatte Bolsonaro nie gebeten. Stattdessen sagte er kürzlich bei einer Massenveranstaltung im Trotz, er werde – anstatt auf die Wissenschaft zu hören – lieber eine große Grillfeier veranstalten. Auch wer in Bolsonaros Kabinett anderer Meinung ist, muss mit harten Konsequenzen rechnen. So entließ der Präsident seinen Gesundheitsminister Luiz Henriqze Mandetta, dessen nüchterne, auf Zahlen basierende Briefings die Brasilianerinnen und Brasilianer zunehmend verunsichert hatten. Mandetta riet bei Medienauftritten zum Abstandhalten.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro setzt sich Maske auf
Reuters/Adriano Machado
Bolsonaro sieht das Coronavirus als nicht gefährlich an

Auch Mandettas Nachfolger, Nelson Teich, war nicht lange Gesundheitsminister. Der Grund: Er teilte die Meinung des Präsidenten nicht, der Chloroquin, beziehungsweise dessen Abkömmling Hydroxychloroquin, als wirksames Mittel gegen das Coronavirus bewarb. Teich trat nach nur wenigen Wochen zurück. Die Wirksamkeit von Chloroquin gilt als alles andere als gesichert, einige Virologinnen und Virologen halten das Mittel im Einsatz gegen Covid-19 sogar als gefährlich.

Eine Studie in Brasilien wurde schon im April wegen einer erhöhten Zahl an Todesfällen unter dem Medikament abgebrochen. Die US-amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel widerrief diese Woche die Notfallzulassung für den Einsatz des Malariamedikaments zur Behandlung von Covid-19 mit der Begründung, es sei unwahrscheinlich, dass es wirksam sei, habe aber „potenzielle schwerwiegende Nebenwirkungen“.

„Große Teile der Bevölkerung lebt ihr Leben wie früher“

Auf Teich folgte nun interimistisch Eduardo Pazuello, ein Heeresdivisionsgeneral ohne Hintergrund in Medizin oder Naturwissenschaften. Die „WP“ kritisierte, dass die brasilianische Bevölkerung das Nichthandeln der Regierung spiegle, indem sich ein Großteil nicht an in anderen Staaten durchaus gängige Regeln halte. „Große Teile der Bevölkerung, sei es aus Armut oder Gleichgültigkeit, leben heute weitgehend ihr Leben wie früher – gehen an den Strand, besuchen Partys und andere Zusammenkünfte, fahren in überfüllten Bussen“, schreibt die Zeitung.

Offenbar strebt Brasilien, wenn auch nicht aktiv oder professionell verfolgt, ein Stadium der Massenimmunität an – was sich etwa in der Stadt Boa Vista zeigt. Mehr als ein Viertel der 277.000 Einwohnerinnen und Einwohner entwickelten laut einer an Ort und Stelle durchgeführten Studie Antikörper. Freilich ging die hohe Rate nicht ohne Opfer einher: Versprochene Krankenstationen in Boa Vista wurden nie errichtet. Die Situation verschärfte sich sogar derart, dass Patientinnen und Patienten ausgeflogen und anderswo behandelt werden mussten.

Immunität bei weniger als drei Prozent

Der größte Teil Brasiliens aber ist weit davon entfernt, Herdenimmunität zu erreichen. Diese wird per definitionem erreicht, wenn zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung durch eine Ansteckung oder einen Impfstoff immun sind. Anfang Juni hatten weniger als drei Prozent der gesamten brasilianischen Bevölkerung Antikörper im Blut. Internationale Gesundheitsexpertinnen und -experten vermuten außerdem, dass die Dunkelziffer mangels breiter Testmöglichkeiten deutlich höher liegen dürfte.

Das österreichische Außenministerium warnt aufgrund des Coronavirus nach wie vor vor Reisen in 21 Länder – Brasilien ist eines davon. Neben den europäischen Staaten Großbritannien, Portugal, Russland, Schweden, Spanien, Türkei, Ukraine, Weißrussland und der norditalienische Region Lombardei befinden sich zusätzlich noch Brasilien, Ecuador, Indien, Indonesien, der Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Peru, Philippinen, Senegal, Südafrika und die USA auf der Liste der Reisewarnungen.