Demonstranten in Kansas City
AP/Charlie Riedel
Rassismus

US-Richter sehen sich als Teil des Problems

Angesichts der jüngsten Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt in den USA anlässlich der Tötung des Afroamerikaners George Floyd haben sich nun Höchstrichter und -richterinnen von einigen US-Bundesstaaten zu Wort gemeldet. Sie prangern den strukturellen Rassismus in den USA an. Überraschend: Sie sehen sich selbst als „Teil des Problems“, wie die „New York Times“ („NYT“) diese Woche berichtete.

Die Zeitung wertet die Stellungnahmen der Richter und Richterinnen als äußerst ungewöhnlich, nehmen doch diese sehr selten Stellung zu aktuellen politischen Themen. So seien diese Statements weder einfache Ausdrücke der Sympathie und Solidarität mit den gegen Rassismus und Polizeigewalt Demonstrierenden noch reine Kommentare zur Gesetzesauslegung. Die meisten Stellungnahmen beschäftigten sich laut der Zeitung mit der zentralen Rolle des US-Rechtssystem bei der Aufrechterhaltung von Rassenungleichheit und Ungerechtigkeit, so die Zeitung weiter.

„Wir sind Teil des Problems, gegen das sie demonstrieren“, so Bernette Joshua Johnson, oberste Richterin am Obersten Gerichtshof von Louisiana Anfang Juni. Johnson ist die erste Afroamerikanerin in dieser Position. Sie glaube fest an die Rechtsstaatlichkeit. Aber die Legitimität sei in Gefahr, da viele afroamerikanische Bürger und Bürgerinnen jeden Tag Beweise dafür sähen, dass schwarze Leben weniger wertgeschätzt würden als weiße, zitiert die „NYT“ Johnson.

Demonstranten liegen auf dem Boden in Michigan
AP/The Flint Journal/Jake May
Ein friedliche Protest gegen die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner

Beasley: „Justizversagen und fortgesetzte Ungleichheit“

Man brauche sich nicht wundern, dass viele Menschen wenig Vertrauen in den Schutz durch das Rechtssystem hätten. Sie äußerte Verständnis für die Proteste. Man brauche sich auch nicht darüber wundern, dass viele Menschen auf die Straße gingen und den Schutz durch das Recht einforderten.

Die Höchstrichterin von North Carolina, Cheri Beasley, ebenfalls eine Afroamerikanerin, geht mit ihrer Kritik noch weiter. Es sei furchtbar, dass manche Proteste ausgeartet seien und es Sachschäden gegeben habe. Und doch müsse „man das Versagen der Justiz und die fortgesetzte Ungleichheit genauso stark analysieren“ wie eben jene Gewalt. Es sei nicht genug, Protestierenden zu sagen: Geht Heim und haltet euch an die Gesetze. „So einfach ist das nicht“, plädierte auch sie dafür, sich die Rolle des Justizsystems in Sachen Rassismus und Ungleichheit genauer anzusehen.

Cheri Beasley, Höchstrichterin von North Carolina
AP/Gerry Broome
Beasley, Höchstrichterin von North Carolina

Regionalgerichte „Speerspitze des systemischen Rassismus“

Beide Frauen beriefen sich bei ihren Botschaften laut der Zeitung auch auf persönliche Erfahrungen als Afroamerikanerinnen. „Doch derartige Stellungnahmen kommen auch von weißen Richtern“, so die Zeitung weiter. Die Zeitung zitierte den Obersten Richter von Utahs Hauptstadt Salt Lake City, Clemens A. Landau. „Wir sind uns schmerzlich bewusst, dass Regionalgerichte wie unseres historisch an der Speerspitze des systematischen Rassismus oder zumindest in deren Nähe gestanden haben“, so Landau.

Auch weitere Höchstrichter und -richterinnen hätten sich ähnlich geäußert, so die Zeitung. Sie zählte etwa die Bundestaaten Massachusetts, Oregon, Washington, Kentucky, Indiana, Georgia, Alaska, New Jersey, California, Connecticut, Maryland, New York, Hawaii und Maine auf.

Washington: Können es in Zukunft besser machen

In einem von den Höchstrichtern des US-Bundesstaats Washington an Richter und Anwälte gerichteten Brief geben diese sich äußerst selbstkritisch. „Als Richter müssen wir die Rolle, die wir in der Abwertung schwarzer Leben gespielt haben, erkennen. Dieses Gericht hat beispielsweise geurteilt, dass es rechtens ist, dass ein Friedhof trauernden schwarzen Eltern das Recht absprechen kann, ihr Kind zu beerdigen“, heißt es in dem Brief. Man könne diese Ungerechtigkeit nicht mehr gutmachen, aber „wir können es in Zukunft besser machen“, zitierte die „NYT“ weiter aus dem Brief.

Es sei zwar nicht das erste Mal, dass die Höchstrichter von US-Bundesstaaten das Amt dazu nutzten, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, diesmal ginge es allerdings um viel mehr. Ungerechtigkeit und Rassenvorurteile seien allerdings das Herzstück des Versagens des US-Rechtssystems und der Gerechtigkeit.

Expertin: Architektur der Unterdrückung

Rassismus habe immer und werde immer auch unter dem Deckmantel des Rechtssystems operieren, so L. Song Richardson, Dekanin der Rechtsfakultät der Universität von Kalifornien. Richardson ist Expertin für implizite rassistische und geschlechtsspezifische Vorurteile in der Polizeiarbeit. Teil dessen, warum man jetzt in dieser Situation sei, sei, dass „Gesetze und Richter ihren Teil im System der Unterdrückung gespielt haben“, so Richardson.

Diese „Architektur der Unterdrückung“ bestehe hauptsächlich auf dem Strafjustizsystem, das in der Zeit der Rassensegregation geschaffen wurde und noch heute durch Richtersprüche verstärkt würde, so die Rechtsexpertin. Als Beispiel nannte Richardson etwa die Doktrin der qualifizierten Immunität. Diese mache es fast unmöglich, Streifenpolizisten oder ihre Vorgesetzten für die Verletzung von Bürgerrechten oder gar für die Tötung von Verdächtigen zur Verantwortung zu ziehen, so die Rechtsprofessorin. Durch die Kombination der beiden Faktoren hätten Gerichte der unkontrollierten Polizeigewalt vor allem gegen Schwarze Tür und Tor geöffnet, so Richardson in der „NYT“ weiter.

Hürde für Reformen

Die Ungerechtigkeit gehe unterdessen im Rechtssystem weiter: Von der Polizeiarbeit über die Anklage, weiter zur Auswahl der Jury vor Gericht bis hin zu Gefängnishaft, Begnadigung und Bewährung, so die Zeitung. Die Belege für die Ungleichbehandlung von Schwarzen im US-Justizsystem sei überwältigend.

Und den Gerichten der US-Bundesstaaten komme dabei eine gewichtige Rolle zu. Mehr als 95 Pozent von gerichtsanhängigen Fällen werden über diese Gerichte abgewickelt. Wie diese ihre Arbeit verstehen und über die unterschiedlichsten Fälle urteilen, wird für die Einführung von systemischen Reformen und deren dauerhafter Etablierung von äußerst wichtiger Bedeutung sein, so die Zeitung weiter.

Auch der Supreme Court ist gefragt

Diese Reformen müssten teilweise auch von der Spitze des Systems ausgehen, so die Zeitung. So habe eben der Supreme Court, das Höchstgericht der USA, etwa die qualifizierte Immunität eingeführt, nannte die Zeitung als Beispiel, und auch nur der Supreme Court könne sie wieder abschaffen, wie bereits einige demokratische und republikanische Politiker und Politikerinnen forderten, so die „NYT“. Bei den neun Richtern und Richterinnen am Supreme Court haben die Konservativen eine Mehrheit von fünf zu vier Stimmen.