Zum Vergleich: 2010 befanden sich laut Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR) rund 41 Millionen Menschen auf der Flucht – im Vorjahr waren es mit 79,5 Millionen beinahe doppelt so viel. Der konstante Anstieg liegt laut dem „Global Trends“-Bericht, der am Donnerstag veröffentlicht wurde, auch daran, dass deutlich weniger Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können.
In den 90er Jahren gingen jedes Jahr durchschnittlich 1,5 Millionen Menschen in ihr Heimatland zurück – 2019 waren es nur noch 390.000. Die UNO spricht angesichts dessen von einer „veränderten Realität“. Vertreibung sei „kein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen mehr“, so UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi. „Ein Prozent der Weltbevölkerung kann aufgrund von Kriegen, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen und anderen Formen der Gewalt nicht in seine Heimat zurückkehren“, so Grandi gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Flucht spielt sich nach dem UNO-Bericht vor allem außerhalb der EU ab, denn die meisten Menschen sind entweder Binnenvertriebene – also Menschen, die innerhalb ihrer eigenen Grenzen flüchten – oder halten sich in einem Entwicklungsland auf. Bei den Aufnahmeländern führt die Türkei vor Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Doch: 85 Prozent der gesamten Geflüchteten weltweit befinden sich in einem Entwicklungsland.
NGOs kritisieren Rückgang bei Finanzhilfen
Das verschärft die Situation für Betroffene zusätzlich, wie NGOs warnen, denn die benötigten Finanzhilfen gehen zurück. CARE verwies auf einen „drastischen Rückgang der Finanzhilfen für die Versorgung von Geflüchteten weltweit“. So sei der „Umsatz des internationalen Waffenhandels 90-mal höher als Finanzhilfen für Flüchtlingskrisen“.

Von dem für 2020 von der UNO ermittelten Bedarf von 9,7 Milliarden Euro „sind bisher nur rund eine Milliarde Euro für die humanitäre Hilfe zugesagt – ein absoluter Negativrekord“, heißt es in einer Aussendung. Die Demokratische Republik (DR) Kongo führe die „Liste der unterfinanzierten Flüchtlingskrisen“ an, dort seien „für 2020 erst rund drei Prozent der benötigten Mittel erreicht, während intern knapp fünf Millionen Menschen vertrieben sind“.
„Besorgniserregender“ Anstieg
Der „besorgniserregende“ Anstieg ist laut UNHCR zum Teil auf die Situation in vielen Konfliktgebieten – insbesondere in der DR Kongo, der Sahelzone, im Jemen und in Syrien – zurückzuführen. So dauert etwa der Krieg in Syrien mittlerweile neun Jahre und hat 13,2 Millionen Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen gemacht. Das allein ist ein Sechstel der weltweiten Gesamtzahl.

Mehr als zwei Drittel der Vertriebenen stammen aus nur sechs verschiedenen Ländern: Syrien, Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. Mitverantwortlich für den Anstieg ist die Situation in Venezuela: Geflohene Venezolanerinnen und Venezolaner sind erstmals im Bericht eigens aufgeführt, da ihre Situation „besser abgebildet“ werden konnte, so das UNHCR. Viele der 3,6 Millionen geflüchteten Menschen aus diesem Land seien zwar weder als Flüchtlinge noch als Asylsuchende registriert, weshalb sie in der Statistik auch extra ausgewiesen werden, sie bräuchten aber ebenso Schutz, so die UNO-Flüchtlingsorganisation.
26 Millionen gelten insgesamt als anerkannte Flüchtlinge (20,4 Millionen unter UNHCR-Mandat plus 5,6 Millionen palästinensische Flüchtlinge), weltweit warten 4,2 Millionen Menschen noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Weil darunter auch Migranten sind, die letztlich nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, listet das UNHCR sie gesondert auf. Rund 40 Prozent der Gesamtzahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen, nämlich zwischen 30 und 34 Millionen, sind Kinder unter 18 Jahren.
Coronavirus verschärft Situation
Schuld an der Misere seien auch Länder, die sich in Konflikte einmischten und damit Friedenslösungen verhinderten, kritisierte Grandi. So könnten keine Bedingungen für die Rückkehr der Flüchtlinge geschaffen werden. Und: Auch die Coronavirus-Krise und die damit verbundene wachsende Armut dürfte die Flucht Richtung Europa verstärken, meinte er: „Ich habe keinen Zweifel, dass die wachsende Armut und der Mangel an Lösungen sowie die Fortsetzung von Konflikten zu mehr Bevölkerungsbewegungen führen wird, in den Regionen und darüber hinaus, nach Europa etwa.“
So seien etwa in Griechenland, wo sich viele Geflüchtete aufhalten, „die Handlungsmöglichkeiten für Hilfsorganisationen stark eingeschränkt“ worden, heißt es in einer Aussendung von SOS-Kinderdorf. Popi Gkliva, die Teil des Nothilfeteams von SOS-Kinderdorf Griechenland ist, warnt, „dass die Umstände dort niemals zur Normalität werden dürfen“. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte Europa scharf: Immer weniger Länder seien bereit, Schutzbedürftige aufzunehmen, sagte die Expertin für Asylpolitik, Franziska Vilmar.
Die Coronavirus-Krise habe aber auch internationale Solidarität gezeigt, sagte UNHCR-Chef Grandi. Aufnahmeländer hätten Flüchtlinge größtenteils in ihre Gesundheitsversorgung einbezogen. Spendenaufrufe seien erfolgreich gewesen. Das UNHCR habe von Unternehmen und Einzelpersonen in diesem Jahr schon 15 Prozent mehr Geld und Sachspenden erhalten als zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr, so Grandi.
Oxfam sieht internationale Gemeinschaft gefordert
„Es ist zutiefst besorgniserregend, dass die Zahl der Vertriebenen zum zehnten Mal in Folge auf ein weiteres Rekordniveau gestiegen ist“, sagte unterdessen Fionna Smyth, Leiterin der humanitären Kampagnen bei Oxfam, in Bezug auf den UNHCR-Flüchtlingsbericht. „Da die überwiegende Mehrheit der weltweiten Flüchtlinge in Entwicklungsländern häufig mit Hunger und schwacher Infrastruktur zu kämpfen hat, ist es an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft den Plan zur Bekämpfung des Coronavirus der Vereinten Nationen vollständig finanziert. Keiner von uns ist sicher, bis wir alle sicher sind.“
Was die Rückkehr anbelangt, sagte Grandi: Von den Betroffenen könne nicht erwartet werden, „jahrelang in Ungewissheit zu leben, ohne die Chance auf eine Rückkehr und ohne Hoffnung auf eine Zukunft an ihrem Zufluchtsort“. „Wir brauchen eine grundlegend neue und positivere Haltung gegenüber allen, die fliehen, gepaart mit einem viel entschlosseneren Bestreben, Konflikte zu lösen, die jahrelang andauern und die Ursache dieses immensen Leidens sind“, sagte Grandi.