Eine Helferin des Roten Kreuzes spricht mit einer Frau hinter einem Absperrgitter
AP/Martin Meissner
CoV-Cluster bei Tönnies

Fast 2.000 Fälle – „Lock-down“ ausgeweitet

Nach dem Coronavirus-Ausbruch in einem Werk des deutschen Fleischkonzerns Tönnies in Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der nachweislich Infizierten im Kreis Gütersloh weiter gestiegen. Es gebe insgesamt 1.952 positive Befunde, am Vortag lag diese Zahl noch bei 1.696, wie am Dienstag mitgeteilt wurde. Nach dem Kreis Gütersloh wird auch im Nachbarkreis Warendorf ein „Lock-down“ verhängt.

Erstmals sind damit in zwei deutschen Landkreisen die Lockerungen der vergangenen Wochen wieder in weiten Teilen zurückgenommen worden: Für insgesamt mehr als 640.000 Personen – so viele leben in den beiden Landkreisen Gütersloh und Warendorf zusammen – gelten nun erneut weitgehend dieselben Beschränkungen des öffentlichen Lebens wie zuletzt im März. Das beschlossene Maßnahmenpaket für die beiden Kreise gilt zunächst für eine Woche bis zum 30. Juni.

Zweck sei, „die Situation zu beruhigen“ und die „Testungen auszuweiten“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU). Mit den Tests solle die noch ungeklärte Frage beantwortet werden, ob sich über die Infektionen bei Tönnies hinaus das Virus auch in Teilen der Bevölkerung verbreitet habe. Im Werk hatten sich mehr als 1.550 Beschäftigte nachweislich mit dem Coronavirus infiziert – rund 7.000 Tönnies-Beschäftigte stehen derzeit unter Quarantäne.

Kontaktpersonen werden ermittelt

Getestet werden sollen etwa Patienten und Pflegekräfte von Krankenhäusern, Altersheimen oder die Mitarbeiter von Supermärkten. Die Behörden stünden vor der Aufgabe, herauszufinden, wie viele Mitarbeiter aus anderen Firmen mit Beschäftigten zusammenwohnten, die über Subunternehmen bei Tönnies arbeiteten, wie der Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, Karl-Josef Laumann, sagte. Es werde untersucht, in welchen Firmen diese tätig gewesen seien.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet
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NRW-Ministerpräsident Laschet will die „Situation beruhigen“ und „Testungen ausweiten“

Mit dem „Lock-down“ sind Freizeitaktivitäten in geschlossenen Räumen nicht gestattet. Auch Museen und Ausstellungen müssen schließen, ebenso Kinos, Bars und Fitnessstudios. Auch Konzerte und Picknicks im Park sind wieder verboten. Für Restaurants gelten strenge Auflagen. Schulen und Kindertagesstätten sind im Kreis Gütersloh bereits seit dem 17. Juni geschlossen. Im Kreis Warendorf geschieht das am Donnerstag, zwei Tage vor Ferienbeginn in Nordrhein-Westfalen.

Quarantäne von Polizei begleitet

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident will die Quarantäne Tausender Menschen mit Polizeiunterstützung durchsetzen. Die Polizei wird die mobilen Teams „auch in schwierigen Situationen begleiten“, so Laschet. Zur Not würden die Behörden die Quarantänemaßnahmen auch mit Zwang durchsetzen. Dolmetscher für Polnisch, Rumänisch und Bulgarisch seien auch dabei. Laschet ortet im Cluster bei Tönnies das bisher größte einzelne Infektionsgeschehen in Deutschland.

Bei einer Pressekonferenz am Dienstag präzisierte Laschet zudem, dass das Zentrum des CoV-Ausbruchs bei Tönnies bei der Fleischzerteilung läge. Dort gebe es die meisten Infizierten. In der Bevölkerung herrschte Wut und Entsetzen über die neuen Beschränkungen. Einige Beobachter sprachen von erhitzter Stimmung gegen die Werksarbeiter, andere von einer „großen Wut, dass dieses System Tönnies so lange hat weitergehen können“.

Kritik an mangelnder Kooperation durch Tönnies

Laschet warf dem Fleischkonzern nach dem CoV-Ausbruch mangelnde Kooperationsbereitschaft vor. Daher hätten die Behörden die Herausgabe von Daten der Werkarbeiter von Tönnies durchgesetzt. „Da wurde nicht mehr kooperiert, da wurde verfügt.“ Dass das Unternehmen den Datenschutz angeführt habe, sei kein Argument. Aus Infektionsschutzgründen wäre Tönnies gesetzlich verpflichtet gewesen, die Daten der Beschäftigten zu übermitteln, sagte Laschet.

Ein Lkw auf dem Firmengleände von Tönnis
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Über 1.500 Beschäftigte bei dem deutschen Fleischkonzern gelten derzeit als infiziert

Die Ansteckungsrate in Deutschland ist dem Robert-Koch-Institut zufolge wegen der einzelnen örtlichen Ausbrüche stark gestiegen. Das sei der Grund, warum der R-Wert zuletzt auf über zwei geklettert sei, sagte RKI-Chef Lothar Wieler am Dienstag in Berlin. Das bedeutet, dass ein Infizierter im Schnitt mehr als zwei weitere ansteckt. Da aber insgesamt die Zahl der Neuinfektionen weiter relativ gering sei, dürfe das nicht überbewertet werden. Aus 137 Kreisen sei in den vergangenen Wochen überhaupt kein neuer Fall gemeldet worden.

Urlauber aus Gütersloh heimgeschickt

Der „Lock-down“ bedeute kein Ausreiseverbot, so Laschet. Am 29. Juni beginnen in dem bevölkerungsstarken Bundesland NRW die Sommerferien. Seine Aussagen blieben hier aber unscharf. Man dürfe auf Urlaub fahren, zugleich appellierte er an die Bewohner von Gütersloh, „jetzt nicht aus dem Kreis heraus in andere Kreise zu fahren“: „Das wird auch kontrolliert werden.“

Man dürfe aber Menschen aus Gütersloh „nicht stigmatisieren“ und unter Pauschalverdacht stellen, betonte Laschet mit Blick auf Berichte, dass ein Ehepaar aus Gütersloh – neben zwölf weiteren Reisenden aus CoV-Risikogebieten – aufgefordert wurde, von seinem Urlaubsort auf der deutschen Insel Usedom vorzeitig abzureisen.

Der Kreis Vorpommern-Greifswald verwies auf die geltende Verordnung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Es dürften Personen nicht einreisen oder bleiben, wenn sie aus einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt kommen, in denen in den vergangenen sieben Tagen vor Einreise die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner höher als 50 war. Auch Bayern erließ bereits ein Beherbergungsverbot für Menschen aus Gütersloh und anderen schwer betroffenen Landkreisen.

Werkverträge abschaffen

Tönnies reagierte auf die Kritik, mit Werkverträgen die Lohnkosten zu drücken, und kündigte am Dienstag an, die Werkverträge „in allen Kernbereichen der Fleischgewinnung“ bis Ende 2020 abzuschaffen. Die Mitarbeiter sollen in der Unternehmensgruppe angestellt werden. Die deutsche Regierung hatte aber ohnehin bereits Ende Mai beschlossen, dass spätestens Anfang 2021 Werkverträge, also die Auslagerung von Arbeiten an Subunternehmer, verboten werden sollen.

Ausbruch in Schlachthof in Niedersachsen

Unterdessen gibt es auch bei einem Schlachthof im niedersächsischen Wildeshausen einen größeren CoV-Ausbruch. Ein Test von 50 Personen habe bei 23 ein positives Ergebnis gezeigt, teilte der Landkreis Oldenburg mit. „Dies ist ein erschreckendes Ergebnis. Wir werden nun entschlossen und zielgerichtet mit dem Unternehmen Maßnahmen durchführen, um die Verbreitung des Virus möglichst einzudämmen“, hieß es vom zuständigen Landrat (dem obersten Kommunalbeamten). Ab Mittwoch sollen alle über 1.100 Mitarbeiter des Schlachtbetriebes erneut getestet werden.

Köstinger: „Bedingungen nicht vergleichbar“

Ein Ausbruch in einem Ausmaß wie bei Tönnies ist laut Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) in Österreich nicht möglich, „die Bedingungen sind mit jenen in Deutschland nicht vergleichbar“. Dennoch will Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) Anfang Juli auch in heimischen Schlachthöfen vermehrt testen. Von Fleischprodukten selbst gehe generell keine Coronavirus-Gefahr aus. Tests in Österreich forderte auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. „Ein ‚Fall Tönnies‘ muss in Österreich verhindert werden.“