Eine Frau mit Nasen-Mund-Schutzmaske hält die Fahne von Uruquay in der Hand
picturedesk.com/dpa/S. Mazzarovich
Uruguay

Nahezu ungeschoren inmitten der Pandemie

Lateinamerika ist, neben den USA, seit einigen Wochen das Zentrum der weltweiten Coronavirus-Pandemie. Ausgerechnet das Land mit der ältesten Bevölkerung auf dem Kontinent kam bisher aber weitgehend unbeschadet durch die Krise: Das kleine Uruguay verzeichnete laut Angaben der Johns-Hopkins-Universität mit Stand Donnerstag lediglich 943 bestätigte Fälle und 28 Tote. Zufall ist das keiner.

„Der Schlüssel zu unserem Erfolg war, schnell zu reagieren, Fälle rasch aufzudecken und zu isolieren“, zitierte der „Guardian“ vor einigen Tagen Rafael Radi, einen der wichtigsten Covid-19-Berater der uruguayischen Regierung. Als Mitte März die ersten vereinzelten Fälle entdeckt wurden, rief Präsident Luis Lacalle Pou den Notstand aus und ließ Grenzen, Schulen und Einkaufszentren schließen.

Ausgangssperren wurden nicht verhängt, vielmehr wurde und wird auf freiwilliges Distanzhalten, Tragen von Masken, eine minutiöse Verfolgung von Infektionen und vor allem großflächige Testungen gesetzt. 1.610 Tests werden im Schnitt pro neu bestätigtem Fall durchgeführt – das ist nach Neuseeland, Australien und Thailand der vierthöchste Wert der Welt. Zum Vergleich: In den USA und Großbritannien werden nur 52 beziehungsweise 21 Tests pro Neuerkrankung durchgeführt.

Uruquuays Präsident Luis Lacalle Pou
Reuters/Andres Cuenca Olaondo
Sein Umgang mit der Krise ließ Präsident Lacalle Pou in der Gunst der Bevölkerung steigen

Uruguays eigener Weg

Fast die Hälfte der neuen Coronavirus-Todesfälle der vergangenen Woche wurde in Lateinamerika und der Karibik gezählt. Im selben Zeitraum wurden in der Region 400.000 Neuinfektionen verzeichnet – mehr als ein Drittel der weltweit erfassten neuen Ansteckungsfälle. Allein in Brasilien, einem Nachbarland Uruguays, gibt es inzwischen über 1,4 Millionen bekannte Fälle und 60.000 Todesfälle. Während der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Pandemie negiert und „als kleine Grippe“ bezeichnet und sich auch Mexiko, obwohl selbst an vorderster Front der Pandemie, in Beschwichtigungen übt, hat Uruguay von Beginn an einen anderen Weg gewählt.

„Uruguay setzt seine Tradition fort, regionalen Trends entgegenzuwirken“, analysierte unlängst das wissenschaftsaffine Nachrichtenportal The Conversation. „Seit Langem zeichnet sich das Land durch eine lebendige partizipatorische Demokratie, geringe Ungleichheit und eine ausgeprägte Sozialpolitik aus – alles Umstände, die den relativen Erfolg Uruguays in der Pandemie zum Teil erklären können.“

Hohes Vertrauen in Institutionen

In einer Region, die von politischer Unzufriedenheit geprägt ist, schätzten die Uruguayer ihr politisches System zum Gutteil, hieß es in dem Artikel. Dem Latin American Political Opinion Project der Vanderbilt University zufolge waren 2016 57 Prozent der Uruguayer mit der Demokratie zufrieden, verglichen mit etwa 34 Prozent der Brasilianer. Damit einher gehe ein hohes Vertrauen in die Institutionen – aus gutem Grund: Der gut ausgebaute Wohlfahrtsstaat des Landes biete den meisten Bevölkerungsgruppen Zugang zu Pension, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Einkommensunterstützung.

Ein Bub in Uruquay mit Nasen-Mund-Schutzmaske und der Fahne von Uruquay in der Hand
AP/Matilde Campodonico
Uruguay weist eines der geringsten Gefälle zwischen Arm und Reich in Lateinamerika auf

„Freiheit mit Verantwortung“

„Dieses Vertrauen ermöglichte es der Regierung, bei der Eindämmung des Virus auf eine Strategie zu setzen, die sie ‚libertad responsable‘ nennt. Frei übersetzt: Freiheit mit Verantwortung“, schrieb am Montag auch der „Spiegel“. Und listete, neben dem ausgebildeten Sozialstaat, weitere Gründe für den Erfolg Uruguays im Kampf gegen die Pandemie auf: Das Land mit seinen knapp 3,5 Millionen Einwohnern verfüge mit Montevideo nur über eine größere Stadt, und selbst in dieser sei der öffentliche Nahverkehr nicht gut ausgebaut – was dem Zusammentreffen vieler Menschen und damit der Ausbreitung des Virus entgegenwirke.

Zudem würden in dem Land vergleichsweise weniger Beschäftigte illegal oder informell arbeiten. Krankenstand ist ihnen, anders als vielen Tagelöhnern, Hausmädchen oder Straßenverkäuferinnen, im Bedarfsfall also möglich. Während laut Weltbank in Lateinamerika mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung im informellen Sektor tätig ist, ist es in Uruguay nur knapp ein Viertel.

Schüler mit Nasen-Mund-Schutzmaske in einer Schule in Uruquay
AP/Matilde Campodonico
Uruguay gilt als südamerikanischer Musterschüler in der Coronavirus-Krise, die den Kontinent schwer getroffen hat

„Brasilien ist das Damoklesschwert“

Auch wenn die Geschäfte großteils wieder geöffnet haben und die Kinder in die Schule zurückgekehrt sind, bleibt Uruguay wachsam – zu bedrohlich scheint die Lage ringsum. Das Land hat im Norden eine fast 1.000 Kilometer lange Grenze zu Brasilien und im Westen eine knapp 600 Kilometer lange zu Argentinien. „Brasilien ist das große Damoklesschwert, das über unseren Köpfen hängt“, sagte Regierungsberater Radi.

„Unsere größte Sorge ist die Stadt Rivera, wo die Grenze nur eine imaginäre Linie in der Mitte einer Allee ist“, sagte Radi. Etwa 170.000 Uruguayer und Brasilianer leben in Rivera und seiner brasilianischen Partnerstadt Santana do Livramento und überqueren täglich die Grenze, um auf der anderen Seite zu arbeiten, einzukaufen und die Familie zu besuchen. „Wir hatten einen Fall von einer uruguayischen Frau, die die Straße überquerte, um in Livramento einkaufen zu gehen, sich dort mit dem Virus infizierte und dann den ganzen Weg nach Montevideo reiste“, sagte Radi. „Es war viel Arbeit, alle ihre sozialen Kontakte nachzuverfolgen.“

„Starke, transparente Demokratie“

Trotz Fragilität der Lage schließt The Conversation seinen Artikel mit nahezu hymnischen Worten über Uruguay: „Politisches Vertrauen und die Unterstützung der Demokratie ermutigen die Menschen, den Empfehlungen des öffentlichen Gesundheitswesens zu folgen, und ein starker Wohlfahrtsstaat bietet Einkommenshilfen und eine zuverlässige Gesundheitsversorgung, um die Ansteckung zu verlangsamen. Mit anderen Worten: Eine starke, transparente Demokratie hat Uruguay in die Lage versetzt, eine Pandemie, die so viele größere und reichere Nationen überwältigt hat, anzuerkennen, zu bewerten und zu kontrollieren."