Medizinisches Personal
APA/Georg Hochmuth
Infektionen und Spitalsbehandlungen

Die Kluft bei den Coronavirus-Zahlen

In den vergangenen Tagen sind in Österreich wieder deutlich mehr Neuinfektionen mit dem Coronavirus verzeichnet worden. Kaum Bewegung gab es dagegen bei der Zahl der Personen in Spitalsbehandlung. Die Kluft in der Statistik könnte laut Fachleuten mehrere Gründe haben – von einer Ausweitung der Tests über das Alter der aktuell Betroffenen bis hin zu einer Mutation des Erregers.

Am Montag stieg die Anzahl der Infizierten in Österreich erstmals seit dem 19. Mai wieder auf über 1.000. Weniger als 80 von ihnen mussten im Spital (inklusive Intensivstation) behandelt werden. Während die Infektionskurve seit Ende Juni sichtbar nach oben geht, liegt die Zahl der Hospitalisierungen bisher auf konstant niedrigem Niveau. Ähnliches lässt sich in anderen Staaten beobachten, etwa Deutschland, Schweden und Kanada. In den USA, wo die Infektionszahlen in die Höhe schießen, ist die Zahl der täglichen Todesfälle in Zusammenhang mit SARS-CoV-2 gesunken. Im April und Mai starben pro Tag an die 3.000 Menschen an Covid-19, mittlerweile sind es etwa 600.

Die heimischen Coronavirus-Hotspots liegen derzeit hauptsächlich in Oberösterreich. In und um Linz traten Infektionscluster in Freikirchengemeinschaften auf, auch in mehreren Schlachthöfen gab es Fälle. „In den letzten Wochen waren die Ansteckungen in Österreich durch die beobachteten Cluster getrieben. Das führt unweigerlich zu mehr Testungen in bestimmten Bereichen, wo man mit großer Wahrscheinlichkeit viel mehr asymptomatische Fälle miterfasst, als man es sonst tun würde“, sagte Eva Schernhammer, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie am Zentrum für Public Health der MedUni Wien, gegenüber ORF.at.

Jüngere Infizierte

Die Ausweitung der Testungen und dadurch ermittelten asymptomatischen Fälle sind eine der Hypothesen, die derzeit in der Fachwelt diskutiert werden. Ein weiterer Grund für die momentan stabile Situation in den österreichischen Kliniken hängt mit dem Alter der aktuell Betroffenen zusammen. Im Moment infizierten sich „eher Jüngere“, sagte der Infektiologe und Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Innsbruck, Günter Weiss, der APA.

Hinzu kommt laut dem Grazer Public-Health-Experten Martin Sprenger, dass Jüngere derzeit stärker getestet werden als noch zu Beginn der Pandemie. Zu sehen gewesen sei das bei den großen Clustern in Deutschland, etwa bei dem Schlachtbetrieb in Gütersloh, so Sprenger gegenüber ORF.at. Auch dort wurden vergleichsweise junge Menschen positiv getestet, die statistisch gesehen weniger schwer erkranken und damit auch weniger oft im Spital behandelt werden müssen.

Die Entwicklung setze sich bei den hospitalisierten Infizierten fort, sagte Sprenger: So sinke der Anteil jener Menschen im Spital, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Er verwies auf eine Studie, wonach in Großbritannien der Anteil der Intensivpatienten an allen Hospitalisierten von rund zwölf Prozent im März auf zwei bis drei Prozent Ende Juni gefallen ist.

Trend auch in Österreich erkennbar

In Deutschland lag das Durchschnittsalter der Infizierten Anfang April bei 52 Jahren – mittlerweile sank es laut Robert-Koch-Institut bei 37. Parallel dazu ging die Zahl der Erkrankten, die in einem Spital behandelt werden mussten, zurück: von 22 Prozent Anfang April auf zuletzt zwischen acht und neun Prozent.

Ähnliche Entwicklungen lassen sich aus den österreichischen Daten ablesen. Nach einer ORF.at-Auswertung der täglich veröffentlichten Zahlen des Gesundheitsministeriums fiel der Anteil der Hospitalisierten unter allen Infizierten in den vergangenen Wochen auf unter zehn Prozent.

Der Anteil der Intensivpatienten an allen im Spital behandelten Erkrankten sank im Juni auf ein deutlich niedrigeres Niveau. Ein direkter Vergleich der Verläufe in Österreich mit anderen Ländern ist aufgrund unterschiedlicher Erhebungs- und Auswertungsmethoden aber schwierig.

Grafik zeigt Anteil der Hospitalisierten an den Infizierten und Anteil der Intensivpatienten an den Hospitalisierten in den vergangenen Monaten
Grafik: ORF.at; Quelle: Sozialministerium

Alters- und Pflegeheime besser geschützt

Zur Entwicklung der Zahlen gibt es weitere Hypothesen: Alters- und Pflegeheime würden mittlerweile viel besser geschützt, sagte Sprenger. Gerade im März und April waren in Heimen auf der ganzen Welt sehr viele Erkrankungs- und auch Todesfälle verzeichnet worden. Dass sich ältere Menschen stärker an Maßnahmen wie soziale Distanzierung halten und damit sich besser schützen, sei eine weitere mögliche Erklärung, so Sprenger.

Wie gefährlich das Virus für ältere Personen mit Vorerkrankungen ist, zeigt der Fall eines Pflegeheims in Wien-Liesing. Ende der Vorwoche wurde bekannt, dass in der Einrichtung für Hochbetagte mit hohem Pflegeaufwand während der Pandemie bisher 16 Menschen an den Folgen der Infektion starben. Eine Mitarbeiterin, die selbst keine Symptome zeigte, hatte den Erreger eingeschleppt – mehr dazu in wien.ORF.at.

Weiters betonte Sprenger die Fortschritte in der Behandlung von Covid-19 – vor allem auch in der Intensivbetreuung. In Großbritannien sei die Mortalitätsrate auf den Intensivstationen deutlich gesunken. Neben medizinischen Fortschritten wird die Entwicklung auch damit erklärt, dass die Patientinnen und Patienten nun etwa jünger sowie mit weniger Vorerkrankungen belastet seien und damit der Anteil von beatmungsbedürftigen Personen von 90 auf 20 Prozent gesunken ist.

Mehr Daten zu Fällen notwendig

Sprenger plädiert für eine differenzierte Betrachtungsweise der Fallzahlen: Positiv Getestete seien nicht gleich Infizierte – und Infizierte seien nicht gleich Erkrankte – und Erkrankte seien nicht gleich Krankenhausfälle. Für eine genauere Analyse brauche es bei positiv Getesteten mehr Daten: Alter, Geschlecht, Region und Schwere des Krankheitsverlaufs müssten herangezogen werden.

Dass die positive Entwicklung wieder ins extreme Gegenteil kippt, hält er für unwahrscheinlich: Dazu brauche es „unentdecktes Infektionsgeschehen über mehrere Wochen, Superspreaderevents und viele infizierte Personen aus der Hochrisikogruppe“.

Fachleute rechnen mit steigenden Spitalszahlen

Auch wenn die Lage nicht mehr so schlimm werden sollte wie im April oder Mai: Eine signifikante Zunahme an Neuinfektionen werde mittelfristig auch wieder vermehrt zu Spitalsaufenthalten führen, so Infektiologe Weiss. Eine Überlastung der Kapazitäten sei aber nicht in Sicht. Auch während des Höhepunkts der „Ersten Welle“ sei man nicht an die Grenzen gestoßen, betonte Weiss.

Public-Health-Expertin Schernhammer rechnet ebenfalls mit einem neuerlichen Zuwachs bei den Hospitalisierungen. Welche Öffnungsschritte sich wie auswirken, lässt sich erst nach etwa 14 Tagen beurteilen. „Man hat jetzt den Anstieg, den man auf die Lockerungen Mitte Juni zurückführen könnte“, so Schernhammer. Angesichts der wieder geöffneten Grenzen und des Starts der Reisesaison sei Vorsicht angebracht, so Schernhammer.

Ein differenziertes Betrachten der einzelnen Fälle hält sie im Prinzip für möglich. Es gehe aber primär darum, „nicht zu viele neue Fälle zu haben“. Wenn die Zahl der einzelnen Cluster überhandnehme und es zu viele „Kollateralinfizierte“ durch Superspreader gebe, könnten die Behörden die Übersicht verlieren. In diesem Fall könnte es zu einem neuerlichen „Lock-down“ kommen, so Schernhammer – „da würden wir uns wünschen, dass das nicht der Fall wird“.

Neue Virusvariante „infektiöser“

Zu guter Letzt könnte es auch eine Mutation sein, die die Eigenschaften des Virus verändert hat. Die derzeit vorherrschende Variante des Coronavirus befällt menschliche Zellen leichter als der ursprüngliche Erreger aus China – eine begutachtete Studie bestätigt nun diesen bereits in einer Vorveröffentlichung publizierten Zusammenhang. Ob das Virus dadurch gefährlicher ist, bleibt weiterhin unklar – mehr dazu in science.ORF.at.