Eine Polizistin hindert eine Frau am Betreten eines Viertels in Jerusalem
APA/AFP/Ahmad Gharabli
Steigende Zahlen

Israel bekommt CoV nicht in den Griff

Israel bekommt einen neuerlichen Ausbruch des Coronavirus bisher nicht in den Griff. Das Gesundheitsministerium verzeichnete am Sonntag 18.940 aktive Coronavirus-Fälle. Damit gab es in Israel seit längerer Zeit wieder mehr aktiv Infizierte als Genesene.

Am Vortag waren 1.148 neue Fälle gemeldet worden. Am Freitag hatte das Ministerium mit 1.464 Fällen einen Rekordwert gemeldet. Nach einem ersten Ausbruch waren in Israel im Mai kaum neue Fälle dazugekommen. Seit Ende Mai steigt die Zahl der täglich registrierten Ansteckungen aber wieder deutlich. Nach Medienberichten ist Gesundheitsminister Juli Edelstein für einen erneuten „Lock-down“, sollte die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf rund 2.000 steigen.

Während Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Beginn der Pandemie für sein entschiedenes Handeln gelobt worden war, steht er inzwischen für sein Krisenmanagement zunehmend in der Kritik. Vorgehalten werden ihm unter anderem vorschnelle Lockerungen und eine mangelnde Vorbereitung auf eine zweite Coronavirus-Welle. Netanjahu steht außerdem unter Kritik, weil er sich weniger auf die zweite Welle als auf seine Annexionspläne im Westjordanland fokussiere.

Proteste in Tel Aviv

Am Samstag demonstrierten Tausende Menschen gegen den Umgang der Regierung mit der Pandemie. Auf dem zentralen Rabin-Platz in Tel Aviv versammelten sich zahlreiche Menschen, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Einige hielten Transparente mit Slogans wie „Lasst uns atmen“.

Tausende Demonstranten in Tel Aviv
AP/Ariel Schalit
In Tel Aviv demonstrierten Tausende gegen den Kurs der Regierung

Die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen trugen Masken, zumeist wurde aber nicht der empfohlene Abstand von zwei Metern eingehalten. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender Kan 11 sprach von mehreren tausend Teilnehmern und Teilnehmerinnen. Die Polizei wollte keine Zahl nennen.

Organisator ortet „Vertrauenskrise“

Der Protest wurde von Organisationen von Arbeiterinnen und Arbeitern, Freiberuflerinnen und Freiberuflern und Kleinunternehmen organisiert, auch Studierendenorganisationen beteiligten sich. Sie werfen der Regierung vor, die Menschen seien nach der Verhängung von Coronavirus-Beschränkungen auf sich allein gestellt. „Es gibt eine schwere Vertrauenskrise zwischen der Regierung und uns“, sagte Mitorganisator Shai Berman Israels öffentlich-rechtlichem Rundfunk.

Die Arbeitslosigkeit in Israel stieg von 3,4 Prozent auf 27 Prozent im April. Im Mai erholte sich der Arbeitsmarkt leicht, die Arbeitslosenquote lag bei 23,5 Prozent. Die Zahlen für Juni wurden noch nicht veröffentlicht.

Netanjahu kündigt Soforthilfe an

Netanjahu kündigte am Sonntag finanzielle Soforthilfen für Menschen an, die durch die Pandemie ihre Lebensgrundlage verloren haben. „Wir drücken auf den Knopf, und das Geld ist in ein paar Tagen auf den Konten“, sagte er. Die Finanzhilfen sollen schon in den nächsten Tagen bei den Betroffenen ankommen. Zunächst sollen Selbständige bis zu 7.500 Schekel (1.920 Euro) erhalten. Eine eigene Gesetzgebung ist dafür laut Netanjahu nicht erforderlich. In den kommenden Tagen werde auch ein Hilfspaket für Beschäftigte und Kleinunternehmen das israelische Parlament passieren, kündigte Netanjahu an.

Zuvor hatte der Regierungschef eingeräumt, die Maßnahmen zu früh gelockert und dadurch ein Hochschnellen der Neuinfektionen im Land begünstigt zu haben. Netanjahu warnte jedoch, strengere Beschränkungen würden der Wirtschaft des Landes wieder schaden.

Ausgangsbeschränkungen in fünf Städten

In der Nacht auf Freitag hatte die Regierung Ausgangsbeschränkungen für Teile von fünf Städten verhängt, darunter auch Jerusalem. In einem Jerusalemer Viertel kam es zu gewaltsamen Konfrontationen zwischen dort lebenden Menschen, die sich nicht an die Sperrmaßnahmen halten wollten, und der Polizei. Zuletzt wurde insbesondere in streng religiösen Wohnvierteln ein dramatischer Anstieg von Neuinfektionen verzeichnet.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums ist der Erreger SARS-CoV-2 bisher bei 38.213 Menschen in Israel nachgewiesen worden. 358 Infizierte sind gestorben. Auch im Westjordanland stiegen die CoV-Zahlen weiter stark an. Die palästinensischen Behörden verzeichneten dort bisher 6.158 Fälle, 33 Menschen starben.

Führende Gesundheitsexpertin trat zurück

Der Vorsprung, den Israel noch zu Beginn der Coronavirus-Krise verzeichnet hatte, scheint verspielt. Vergangene Woche erklärte eine führende Gesundheitspolitikerin Israels aus Protest gegen die Reaktion der Regierung ihren Rücktritt. Siegal Sadetzki, Direktorin für öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium, schrieb auf Facebook, seit einigen Wochen habe Israel im Kampf gegen CoV die Richtung verloren. „Im Kampf gegen die erste Welle hatte Israel Erfolg, hat sich dann aber von anderen führenden Ländern entfernt, indem es schnelle Lockerungen durchsetzte“, so Sadetzki.

Polizisten kontrollieren in Jerusalem die Maskenpflicht
APA/AFP/Ahmad Gharabli
Maskenkontrolle in Jerusalem: Israel scheint den Vorsprung, den das Land zu Beginn der Krise verzeichnete, verspielt zu haben

Daraufhin sei die Zahl der Infektionen rasch angestiegen. „Vor diesem Hintergrund bin ich zu dem Schluss gelangt, dass ich unter den neuen Umständen – weil meine professionelle Ansicht nicht akzeptiert wird – nicht mehr aktiv dabei helfen kann, gegen die Ausbreitung des Coronavirus zu kämpfen.“ Sadetzki vertrat das Ministerium zu Beginn der Pandemie häufig in der Öffentlichkeit, auch bei Pressekonferenzen mit Ministerpräsident Netanjahu. Sie gilt als Verfechterin eines harten „Lock-down“-Kurses, wurde aber auch für das Vorhersagen von Horrorszenarien kritisiert.

Auch von anderen Seiten hagelte es Kritik für das Handeln der Regierung. Die Infektionsexpertin Galia Barkai vom angesehenen Sheba Medical Center bei Tel Aviv bemängelte die zu schnellen Lockerungen und die Krisenkommunikation der Regierung. Sie mahnte raschere epidemiologische Tests an.