Demonstranten in Jerusalem
Reuters/Ronen Zvulun
Wochenend-„Lock-down“

Netanjahu in der Klemme

Vor einigen Wochen ist Israel noch für die rasche Eindämmung des Coronavirus gelobt worden, doch jetzt sieht die Lage verheerend aus. Wegen rasch steigender Zahlen von Neuinfektionen hat die Regierung in einer Marathonsitzung eine Verschärfung der Maßnahmen beschlossen, die mit einem De-facto-„Lock-down“ am Freitag begonnen haben. Die Kritik an Premier Benjamin Netanjahu wird immer schärfer – und das gleich von einigen Seiten.

Geschlossen bleiben müssen dann etwa Geschäfte, Einkaufszentren, Freiluftmärkte, Friseure, Büchereien, Museen und Touristenattraktionen. Ausgenommen bleiben Lebensmittelläden und Apotheken. Ab kommendem Wochenende sollen dann auch die Strände geschlossen bleiben. Ausgangsbeschränkungen soll es nicht geben, dafür gelten jedoch wieder Einschränkungen für Versammlungen.

Beschlossen wurde bei einer nächtlichen Regierungssitzung auch, dass Versammlungen von mehr als zehn Personen in geschlossenen Räumen und mehr als 20 Personen im Freien künftig untersagt sind. Ob sich das auch auf Religionsgemeinschaften bezieht, konnte vorerst nicht geklärt werden, wie unter anderem die „Times of Israel“ berichtete. Restaurants dürfen an Arbeitstagen nur noch Essen zum Mitnehmen und zur Lieferung nach Hause anbieten. Ministerien schließen für den Publikumsverkehr, Kontakte seien nur noch online möglich.

Israel verschärft CoV-Maßnahmen

Weltweit steigen die CoV-Infektionszahlen, Lockerungen werden zurückgenommen. Israel hat erneut einen partiellen „Lock-down“ verfügt.

„Hausverstand“ statt „epidemiologischer Basis“

Die Opposition übte laut „Times of Israel“ scharfe Kritik an den Maßnahmen. Niemand könne nachvollziehen, welche Maßnahmen warum getroffen werden. Wissenschaftler kritisierten, die Entscheidungen seien ohne jede „epidemiologische Basis“ getroffen worden. Der Sender Channel 12 berichtete, auch Minister hätten bei der Sitzung auf fehlende Datenbasis hingewiesen. Netanjahu hätte das auch zugegeben, aber gesagt: „Wir werden bei unseren Entscheidungen gesunden Hausverstand walten lassen, denn wir müssen dringend Schritte unternehmen, um die Situation in den Griff zu bekommen.“

Menschen auf einem Markt in Jerusalem mit Maske
Reuters/Ronen Zvulun
Belebte Märkte wird in nächster Zeit in Israel wohl keine geben

Plan für „Helikoptergeld“ gescheitert

Netanjahu hatte laut Medienberichten auch geplant, „Helikoptergeld“ zur Belebung der Wirtschaft zu verteilen: Umgerechnet 190 Euro für Einzelpersonen und bis zu 770 Euro für Familien sollten an alle Israelis verteilt werden. Der Premier scheiterte aber an Einsprüchen aus seinem Kabinett, in der Öffentlichkeit hatte es eine Welle der Kritik gegeben. Der Kolumnist Ben Caspit nannte in der Zeitung „Maariw“ den Plan – wohl in Anspielung auf die laufenden Korruptionsverfahren Netanjahus – „Bestechungsgelder für die Massen“. Der Gouverneur der Nationalbank sagte, es gebe viel „effektivere Methoden“, den Konsum anzukurbeln.

Verlangt wurde, dass das Geld nur jenen zugutekommen solle, die es brauchen: Die Arbeitslosigkeit liegt in Israel mittlerweile bei über 20 Prozent, die verzögerte Auszahlung des Arbeitslosengeldes hatte für Proteste gesorgt. Auch Kleinunternehmer gehen zunehmend auf die Barrikaden, auch wenn ihnen zuletzt neue Hilfszahlungen versprochen wurden.

Auch gegen Netanjahu hatten sich zuletzt Proteste gerichtet. Bei einer Demonstration vor der Residenz des 70 Jahre alten Regierungschefs in Jerusalem gab es am Dienstag Dutzende Festnahmen. Dem wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagten Netanjahu wurde von den Demonstranten vorgeworfen, sich mehr um die Abwehr der Vorwürfe gegen ihn zu kümmern als um die Bekämpfung des Coronavirus.

Demonstranten in Jerusalem
Reuters/Ronen Zvulun
Proteste spitzten sich in den vergangenen Tagen deutlich zu

Fast 2.000 Neuinfektionen pro Tag

Nachdem die erste Phase der Pandemie in Israel mit scharfen Maßnahmen Mitte März sehr gut gemeistert worden waren, galt das Land als Vorbild für andere Länder, so auch für Österreich, wie Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) mehrmals betonte. Doch dann stiegen die Infektionen wieder stark an. In den vergangenen Tagen wurden jeweils zwischen 1.800 und fast 2.000 Neuinfektionen verzeichnet. Freitagfrüh gab es rund 25.600 aktuell positiv Getestete.

Verantwortlich dafür werden die vorschnellen und vor allem unkoordinierten Rücknahmen der Maßnahmen im Mai gemacht. So kam es in strengreligiösen Wohnvierteln zu einem drastischen Anstieg an Neuinfektionen. Im Juni fanden laut Medien in ganz Israel Tausende – teils sehr große – Hochzeiten statt, die ebenfalls als Beschleuniger für die Verbreitung fungiert haben dürften.

Und es gibt in Israel zwei Verbreitungswege, die in anderen Ländern eine weit geringere Rolle spielen. Man verzeichnet einen starken Anstieg von Infektionen von Zehn- bis 19-Jährigen, die in Schulen angesteckt werden. Dass Schulcluster hier eine Rolle spielen, wird mit den großen Klassengrößen erklärt, vor allem aber mit Schulfeiern, Partys und anderen Events. Und laut Medienberichten ist auch im öffentlichen Nahverkehr die Ansteckungsgefahr groß, Grund dafür sind übervolle Busse mit unzureichenden hygienischen Verhältnissen.

Gefährliche Mischung für Netanjahu

Mittlerweile ergibt die Kombination aus gesundheitlicher und wirtschaftlicher Krise eine gefährliche Mischung für Netanjahu. Im Verlauf der Krise hat die Regierung viel Vertrauen verspielt. Einer Umfrage des Israelischen Demokratie-Instituts (IDI) zufolge sind 75 Prozent der Israelis enttäuscht oder zornig über die Coronavirus-Politik der Regierung. Das zeigt sich nicht nur an zunehmend wütenden Demonstrationen in Tel Aviv und Jerusalem. Auch Streikaufrufe von Sozialarbeitern und Krankenhauspersonal kursieren.

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
Reuters/Gali Tibbon
Netanjahu hat den Bonus aus der schnellen Reaktion auf das Coronavirus verspielt

Während Netanjahus Likud-Partei in Umfragen noch immer stärkste Kraft ist, stürzten die persönlichen Imagewerte des Premiers deutlich ab. Profilieren konnten sich der ehemalige Verteidigungsminister Naftali Bennett von der ultrarechten Jamina-Partei sowie der liberale Oppositionsführer Jair Lapid.