Bundeskanzler Sebastian Kurz
ORF
„Neue Vorschläge“

Kurz sieht Bewegung bei EU-Gipfel

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sieht im Ringen um den 1,8 Billionen Euro schweren CoV-Wiederaufbaufonds beim EU-Gipfel in Brüssel Bewegung. Er sagte am Freitag nach einem Sechsaugengespräch mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der ZIB2: „Es wird über die Nacht hier neue Vorschläge geben. Also es gibt Dynamik in unsere Richtung.“ Am späten Freitagabend wurden die Beratungen auf Samstag vertagt.

Die vier Nettozahler (Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark) würden den derzeitigen Vorschlag für den „Recovery Fonds“ ablehnen, der 750 Milliarden Euro umfasst, davon 500 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen. „Dann fehlt noch die große Frage: Wohin soll das Geld fließen und für welche Projekte soll es verwendet werden? Und gibt es Konditionalitäten wie Rechtsstaatlichkeit? Das werden noch harte, aber notwendige Verhandlungen werden.“

Kurz knüpfte seine Zustimmung an Reformen und nannte in diesem Zusammenhang explizit Italien. „Ich bin überzeugt davon, dass in Italien einschneidende Reformen notwendig sind“, sagte er. „Und wofür wir sicherlich nicht zu haben sind, ist, dass Länder Geld bekommen, ohne Reformen durchzuführen, weil dann würde dieses Geld versanden. Es hätte keine positive Auswirkung, sondern es würde vielleicht nur dem politischen System helfen, die notwendigen Reformen wieder einmal nicht anzugehen.“

Bundeskanzler Kurz über den EU-Sondergipfel

Beim EU-Gipfel in Brüssel beraten gerade die 27 EU-Staaten über den schuldenfinanzierten Coronavirus-Aufbauplan im Umfang von 750 Milliarden Euro und das künftige Budget der Gemeinschaft. Bundeskanzler Kurz sah im ZIB2-Interview „Bewegung“ in den Verhandlungen.

„Manche Systeme kaputt“

Der Bundeskanzler verteidigte außerdem seine Freitagnachmittag getätigte Aussage über Staaten mit kaputten Systemen. Er habe nicht das Land Italien als kaputtes System bezeichnet. Aber er stehe dazu, „dass die Wettbewerbsfähigkeit sehr unterschiedlich ist, dass es problematische Systeme teilweise gibt, und manche Systeme auch kaputt sind“.

„Ich kann Ihnen sagen, in welchem Land sehr viel getan wurde, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, und in welchem Land die Bürokratie, die Korruption, ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit die Wirtschaft hemmt“, sagte Kurz.

EU-Gipfel zu Budget und CoV-Wiederaufbaufonds

Bei einem Sondergipfel haben die EU-Staats- und -Regierungsspitzen die Verhandlungen über einen Milliardenplan gegen die CoV-Krise mit den schwierigsten Punkten begonnen. Umstritten ist vor allem die Frage, wie viele Zuschüsse und wie viele Kredite an die besonders betroffenen Länder aus dem Coronavirus-Hilfsfonds fließen sollen.

Es sollte europäische Gelder nur dann geben, wenn Rechtsstaatlichkeit gewahrt sei, und wenn die Gelder auch in Ökologisierung und Digitalisierung fließen, „und nicht in rückwärtsgewandte Projekte“, sagte Kurz. Wenn das Geld irgendwo im System versande, nur in Banken fließe oder „vielleicht sogar im schlimmsten Fall sogar in der Korruption untergeht, dann bringt dieses Investment sehr wenig“.

Babis pessimistisch

Bei der ersten Zusammenkunft der EU-Staats- und -Regierungsspitzen seit fast einem halben Jahr geht es neben dem Wiederaufbaufonds auch um den mehrjährigen Finanzrahmen. Das Treffen dauert noch bis Samstag, bei großen Fortschritten könnte auch am Sonntag weiterverhandelt werden.

Anders als Kurz zeigte sich der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis am Freitag nach stundenlangen Verhandlungen pessimistisch. „Ich habe nicht das Gefühl, dass wir einer Einigung näher kommen“, sagte Babis.

EU-Gipfel in Brüssel
APA/AFP/Francois Lenoir
Der Gipfel in Brüssel ist die erste Zusammenkunft der EU-Staats- und -Regierungsspitzen seit fast einem halben Jahr

Babis zählt zu jenen Regierungschefs, die Widerstand gegen die Ansichten der großen EU-Staaten und der EU-Kommission leisten. Konkret kritisiert er, dass die relativ größten Nettozahler, darunter Österreich, weiterhin einen Beitragsrabatt erhalten sollen. Polen und Ungarn sperren sich dagegen, dass die Gewährung von EU-Mitteln an die Erfüllung von Rechtsstandards geknüpft sein soll.

Rutte erhöht Einsatz im Billionen-Poker

Der niederländische Regierungschef Mark Rutte hatte den Einsatz im Billionen-Poker zu Beginn des Treffens noch erhöht. Rutte verlangte, dass Empfängerländer von milliardenschweren Konjunkturhilfen vor der Auszahlung der EU-Hilfen Reformen nicht nur zusagen, sondern bereits umgesetzt haben. „Wenn Kredite bis zu einem gewissen Grad in Zuschüsse umgewandelt werden müssen, dann sind Reformen umso wichtiger und die absolute Garantie, dass sie wirklich stattgefunden haben“, sagte Rutte.

Darüber hinaus nannte er als Knackpunkte in den Verhandlungen die Höhe des nächsten mittelfristigen EU-Budgets, die Höhe der Rabatte für Nettobeitragszahler und die Aufteilung der Hilfen in der Coronavirus-Krise in Kredite und Zuschüsse.

Italiens Premier Giuseppe Conte wies Ruttes Bedingungen scharf zurück. Der Vorschlag sei „inkompatibel mit den Verträgen und politisch nicht praktikabel“, sagte Conte. Italien gehört zu den am stärksten von der Pandemie betroffenen Ländern. Ein Kompromiss beim Wiederaufbaufonds sei nicht nur im Interesse der Italienerinnen und Italiener, „die viel gelitten haben und leiden, sondern im Interesse aller europäischen Bürger“.

Kurzzeitige Unterbrechung

Der Gipfel wurde am späten Freitagnachmittag kurzzeitig unterbrochen, die Zeit für Einzelgespräche genutzt. EU-Ratspräsident Charles Michel beriet sich mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Zuvor hatte er auch mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Rutte gesprochen.

Grafik zeigt Daten zum EU-Budget und Wiederaufbaufonds
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU

Die Unterbrechung wurde auch für eine Reinigung und Desinfizierung des Sitzungssaales genutzt, wie Michels Sprecher auf Twitter schrieb. Aufgelockert wurde die Zusammenkunft durch spontane Geburtstagsfeiern. So bekam die deutsche Kanzlerin Merkel Geschenke zu ihrem 66. Geburtstag, unter anderem mehrere Flaschen Weißwein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch der portugiesische Premier Antonio Costa nahm Glückwünsche zu seinem 59. Geburtstag entgegen.

Frisch vermählt reiste die dänische Regierungschefin Mette Fredriksen nach Brüssel. Sie hatte ihre eigentlich für Freitag geplante Hochzeit auf Mittwoch vorverlegt. Fast alle EU-Spitzen hielten sich bei dem Treffen, das im größten Saal des Ratsgebäudes mit reduzierten Delegationen stattfand, an die CoV-Regeln. Der bulgarische Premier Bojko Borissow wurde aber von Merkel gerüffelt, weil seine Nase aus der Maske hervorlugte.