Konferenzraum des europäischen Rats.
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EU-Gipfel

Machtpoker bei Ringen um Wiederaufbau

Tag drei auf dem EU-Gipfel in Brüssel, und immer noch geht es um das EU-Wiederaufbaupaket gegen die Folgen des Coronavirus. Ein umfassender Kompromiss war nach Angaben aus Verhandlungskreisen am Sonntag nicht in Sicht. Die Allianz der Nettozahler Österreich, Niederlande, Schweden, Dänemark und auch Finnland, forderte Zuschüsse im Aufbaufonds von 350 Milliarden Euro und formulierten das als „letztes Angebot“.

Der Rest wären Kredite. Die Gruppe forderte auch ein geringeres Volumen für den Aufbaufonds, nämlich 700 Milliarden statt 750 Milliarden Euro. Damit ist aber EU-Ratspräsident Charles Michel gar nicht einverstanden. Nach Angaben eines Diplomaten beharrte er zusammen mit Italien, Spanien sowie Deutschland, Frankreich und andere auf einer Summe an Zuschüssen nicht unter 400 Milliarden Euro. Die Nettozahlerländer lehnten das ab.

Das über Schulden finanzierte Konjunktur- und Investitionsprogramm wird im Paket mit dem siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen im Umfang von mehr als 1.000 Milliarden Euro beraten. Die Verhandlungen sind deshalb außerordentlich komplex und zäh. So verlangten die Nettozahlerländer nach Angaben aus EU-Kreisen auch weitere Rabatte auf ihre Beiträge zum EU-Haushalt. Das würde Einschnitte bei Zukunftsfeldern wie Digitalisierung und Umweltschutz bedeuten und werde deshalb von der Mehrheit abgelehnt, hieß es.

Frage der Budgetrabatte

Nach bisher unbestätigten Angaben der Nachrichtenagentur ANSA bot Michel fünf Ländern Budgetrabatte im Umfang von 25 Milliarden Euro für das siebenjährige EU-Budget von 2021 bis 2027. Rabatte sollten nach bisherigem Stand Deutschland, die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark erhalten. Für Österreich sah er eine vorteilhaftere Lösung bei den Geldern für ländliche Entwicklung vor.

Der niederländische Premierminister Mark Rutte, der schwedische Premierminister Stefan Lofven, der österreichische Bundeskanzler Chancellor Sebastian Kurz und der dänische Premierminister Mette Frederiksen.
APA/AFP/Francisco Seco
Österreich blockiert mit vier weiteren Staaten einen Kompromissvorschlag

Nach übereinstimmenden Berichten von Diplomaten hatte Michel für seinen Kompromissvorschlag die Unterstützung von 22 Mitgliedsstaaten. Wie die italienische Nachrichtenagentur ANSA berichtete, hätten diese während des Abendessens Druck auf die fünf Nettozahler gemacht, doch nicht immer mehr zu fordern und dem Ernst der Situation gerecht zu werden.

Michel redete den Staats- und Regierungschefs ins Gewissen. Er verwies auf die zahlreichen Kompromissangebote und Zugeständnisse, die er gemacht habe. Wegen der beispiellosen Krise sei aber eine Einigung erforderlich. Michel verwies auch auf das negative Medienecho, wenn der Gipfel scheitern sollte: „Mein Wunsch ist es, dass wir eine Einigung erzielen, und dass die ‚Financial Times‘ (‚FT‘) und andere Zeitungen morgen titeln, dass die EU erfolgreich eine ‚Mission Impossible‘ gemeistert hat.“

Gipfel in Verlängerung

Der am Freitag begonnene Gipfel sollte ursprünglich schon Samstagabend zu Ende sein, wurde aber verlängert. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hielt eine Einigung zuletzt noch für möglich. „Ich glaube, es ist möglich, ein Ergebnis zustande zu bringen“, sagte der Kanzler am Sonntag kurz vor Wiederaufnahme des Gipfels in großer Runde. Dafür wäre aber noch ein „weiter Weg zu gehen“. Dabei betonte Kurz seine Bereitschaft zur Einigung. „Ich würde es persönlich sehr schade finden, wenn es zu einem Abbruch kommt“, sagte Kurz. Er fände es gut, wenn es zu einer Lösung komme, so Kurz, dafür müssten sich aber alle bewegen.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel war indes skeptisch in den dritten Gipfeltag hineingegangen. „Ob es zu einer Lösung kommt, kann ich nach wie vor nicht sagen“, sagte die CDU-Politikerin. Der französische Präsident Emmanuel Macron äußerte sich ähnlich und drängte wie Merkel auf einen Durchbruch. Größter Knackpunkt war dann nach Angaben aus Verhandlungskreisen genau die Frage, wie viel aus dem Krisenprogramm als Zuschüsse vergeben werden soll.

Merkel und Macron wollen ein „wuchtiges“ Programm und verweisen auf die beispiellose Größenordnung der Rezession durch die Coronavirus-Pandemie. Die am schlimmsten betroffenen Länder Italien und Spanien hoffen auf möglichst umfassende Hilfe und möglichst freie Hand bei der Verwendung.

Kurz: „Fauler Kompromiss“

Ein Vermittlungsversuch von Merkel und Macron mit den Nettozahlerländern war in der Nacht zum Samstag ohne greifbaren Erfolg geblieben. Danach war die Stimmung nach Angaben aus Verhandlungskreisen getrübt. Die Allianz hätte etliche Zugeständnisse erreicht, wollte aber immer noch mehr, hieß es. Kurz meldete sich am Sonntag mit der Warnung vor einem „faulen Kompromiss“ beim geplanten Rechtsstaatsmechanismus im Haushalt, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung von EU-Werten koppeln soll. Die Nettozahlerländer hätten sich darauf verständigt, „dass wir hier an einer sehr klaren Position festhalten werden und eine gewisse Grenze auch nicht bereit sind zu unterschreiten“.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron.
APA/AFP/Francisco Seco
Merkel und Macron fordern ein „wuchtiges“ Programm

Gegenpol ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, der den Mechanismus zusammen mit Polen strikt ablehnt. Orban ging seinerseits den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte mit harter Kritik an – und auch sonst war der Ton auf dem EU-Gipfel mitunter rau. Wie das EU-Portal Politico unter Berufung auf italienische Diplomaten berichtete, warnte Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte Rutte vor den Folgen seiner Blockade.

Conte soll zu Rutte gesagt haben: „Du bist vielleicht ein Held in deiner Heimat für ein paar Tage, aber nach ein paar Wochen wirst du vor allen europäischen Bürgern dafür verantwortlich gemacht werden, dass du eine angemessene und effiziente europäische Antwort blockiert hast.“ Conte habe auch erklärt, dass der letzte geforderte Betrag nur das Minimum sei. Er fügte den Angaben zufolge hinzu, dass der niederländische Widerstand gegen den Aufbauplan riskiere, den EU-Binnenmarkt zu zerstören. Der deutschen Bundeskanzlerin Merkel kommt in den Verhandlungen unterdessen eine Vermittlerrolle zu, denn Deutschland führt seit dem 1. Juli den Vorsitz der 27 EU-Länder.

Wieser: „Je höher die Zuschüsse, umso besser ist es“

Der Ökonom Thomas Wieser drängte im Interview mit der ZIB2 am Sonntag auf einen möglichst hohen Zuschussanteil. „Je höher die Zuschüsse, umso besser ist es“, sagte der frühere Leiter der Euro-Arbeitsgruppe. „Die Höhe der Kredite ist in meinen Augen relativ belanglos“, fügte er mit Blick auf die Forderungen Österreichs und der anderen Nettozahler hinzu. Wieser sagte, die Höhe der „verlorenen Zuschüsse“ sei „wesentlich“. Kredite könnten die Mitgliedsstaaten nämlich auch über den Euro-Stabilitätsmechanismus (ESM) zu sehr günstigen Konditionen abrufen.

EU-Experte Wieser über den EU-Gipfel

Der frühere Sektionschef im Finanzministerium, Thomas Wieser, kennt Verhandlungen, wie sie derzeit beim EU-Gipfel in Brüssel stattfinden, aus nächster Nähe. Während der Finanzkrise war er federführend an Hilfspaketen beteiligt, später war er Koordinator der Euro-Zone. Thomas Wieser ist zu Gast in der ZIB2.

Der österreichische Finanzexperte bezeichnete zugleich die niederländische Forderung nach einem nationalen Vetorecht gegen die Coronavirus-Hilfszahlungen als „völlig unangemessen“. Zwar sollten neben der EU-Kommission auch die Mitgliedsstaaten bei den Hilfen mitreden. „Ein Vetorecht eines einzelnen Staates ist für mich eigentlich undenkbar.“ Wieser bezeichnete die Chancen auf eine Einigung beim laufenden EU-Gipfel mit „50:50“. Zugleich warnte er vor einem Scheitern der EU-Finanzverhandlungen in diesem Monat. „Wenn es im Juli nicht klappt, wäre es politisch ganz, ganz schlimm“, sagte er.

Wieser trat auch Einschätzungen entgegen, wonach die Coronavirus-Hilfen der Einstieg in eine Schuldenunion seien. Genauso wie die Pandemie seien auch die Hilfen „ein Einmalereignis“. Er glaube nicht, dass eine Vergemeinschaftung von Schulden in der Europäischen Union „zu meinen Lebzeiten passieren wird“. Das erfordere nämlich viel Solidarität, verbunden mit der Aufgabe von Souveränität. Beides werde aber von Politikern „nicht gleich gerne gesehen“, sagte er mit Blick auf Italien.